Nicht geboren, nicht gestorben
Ein Essay von Carsten Dohnke (veröffentlicht 2001)
In die tiefen Ebenen der Meditation wollte ich vordringen, in die „Dhyanas“ wie die Buddhisten sagen, in meditativen Zustände, in denen Verzückung, Glück und tiefer Frieden das (eigene) Sein durchtränken. Auf diesem Weg wollte ich lernen, liebevoll und offen durch die Welt zu gehen und andere auf ihrem Weg zu unterstützen. Mit diesem Ziel war ich schon so viele Male zuvor nach Asien aufgebrochen. Doch diesmal gab es einen Unterschied: Im Gegensatz zu den vorherigen Reisen meditierte ich nicht in einem Kloster, sondern in einer Dunkelkammer: drei Wochen lang wollte ich im Stockdusteren leben ohne auch nur eine Minute Licht, ohne meine Hände vor den Augen zu erkennen, ohne zu erblicken was ich aß und ohne jegliche Reize der Außenwelt, die meine Sinne ablenken könnten.
Angst, Einsamkeit und emotionale Krisen packen mich schon in den ersten Tagen. Ich weiß nicht, wo ich bin, stoße überall gegen, fühle mich total verloren und werde Opfer unzähliger bizarrer Traumbilder, die sich meines Geistes bemächtigen. Gleichzeitig erlebe ich in vielen Meditationen unerwartet innere orgastische Zustände; fühle, wie jede Zelle meines Körpers tanzt und sich dabei mit der Lebenskraft des Universums vereint. Diese ersten Tage sind ein Wechselbad der Gefühle.
Je mehr ich das Dunkel akzeptiere, innerlich wirklich loslasse und ganz entspanne, desto intensiver wird das Gefühl unendlicher Liebe in meinem Herzen. In der zweiten Woche wird der Frieden raumloser Weite zu meinem ständigen Begleiter. Die Bilder, die während meiner Wachträume nun in mir aufsteigen, kommen aus immer älteren Schichten meines Daseins. Und ich empfinde genau das, was im Dualismus des Alltags stets verloren geht: die ursprüngliche Geborgenheit eines Fötus im Mutterleib.
Nach ca. 14 Tagen habe ich innerlich mit dem Rückzug in die Dunkelheit abgeschlossen. Es wird unglaublich langweilig. Die Zeit wirkt wie gedehnt. Ich bin bereit, die Dunkelkammer zu verlassen. Ich habe meine Lektion gelernt – denke ich zumindest. Trotzdem meditiere ich weiterhin und genieße das Gefühl der Liebe und Stille im Herzen. Aber innerlich warte ich darauf, dass die „Tür zum Leben“ sich öffnen wird. Ich will neu geboren werden und hinaustreten ins Licht.
Doch plötzlich geschieht etwas Unerwartetes. Mich ergreift die Angst vor dem Tod. Der Tod durchdringt mein Wesen mit einer Gewaltigkeit, wie ich es mir nie hätte vorstellen können: Ich träume, sehe und fühle meinen Tod, den Tod meiner Frau, meiner Eltern und meiner Freunde. Tagelang! Das Leben hat seinen Zauber verloren: tanzen, im Meer schwimmen, leckere Speisen essen, küssen und sich lieben, alle diese Freuden erscheinen wie eine Flucht vor der Wahrheit! Und selbst der Glaube an Wiedergeburt wirkt im Angesicht des Todes wie ein kraftloser Heuchler, will er mir doch vormachen, dass ich unsterblich bin. Nichts macht mehr Sinn, nicht mal, aus diesem Dunkel herauszukommen. Denn das ist jetzt gewiss: Vor dem Tod gibt es kein Entkommen. Er wartet und holt mich zur rechten Zeit.
Hier geht es nicht weiter. Auf der Suche nach Frieden und Glück bin ich auf Granit gestoßen! Es ist sinnlos – ja unmöglich – permanenten inneren Frieden zu finden, wenn dieses Leben im Zerfall endet. Diese, meine Person kann nicht von Leiden befreit werden. Ihre Existenz beinhaltet bereits die Grundlage des Leidens! Innerlich gebe ich auf! Und so beginnt der Tod, mich noch tiefer in die Arme zu schließen.
Obwohl jede meiner Zellen von einer Angst und Ohnmacht durchdrungen ist, ist seit diesem Moment etwas anderes da, wie eine Ahnung, wie ein Gefühl, und doch habe ich nichts wahrgenommen. Es ist nicht wie das Licht am Ende eines Tunnels. Da ist weder Licht noch Tunnel. Es ist das, was immer schon da ist. Nie geboren und niemals gestorben. Ich will es greifen, aber es ist nicht greifbar. Es hat nichts zu tun mit irgendeiner Meditation oder Praxis. Es ist weder Sein noch Nicht-Sein. Es fühlt sich eher an wie ein Nebel, der alles umfängt. In ihm liegt die Quelle der Liebe. Und in ihm liegt das Tor zur Freiheit. Das Tor zu durchschreiten bedeutet zu sterben, wie in einer Flamme zu verbrennen. Und das, was dann vielleicht geboren wird, ist etwas anderes, bin nicht mehr „ich“ selbst.
Als ich die Dunkelkammer nach drei Wochen verlasse, ist ganz tief in mir etwas verändert: Für einen ganz kleinen Moment habe ich ein tiefes Vertrauen in die „Essenz des Lebens“ gespürt, in die „Kraft des Tao“, wie die Chinesen sagen. Und ich ahne, dass es wichtig ist, diesen Samen des Vertrauens tiefer zu entwickeln, um mich ganz auf das Leben einzulassen, um die tiefen Ängste in mir aufzugeben, die nichts anderes tun, als permanent an der Illusion eines Ich zu stricken, dass ständig kämpfen, arbeiten und sich beweisen muss, um geliebt zu werden oder um einfach nur zu sein. Welch ein Scheintrug!