Meridiane und spirituelle Entwicklung
Wie das Verständnis des Meridian-Systems uns eine neue Sicht auf die Realität eröffnen und unsere spirituelle Praxis revolutionieren kann.
Ein Artikel von Carsten Dohnke und Chiara Martini.
Das Konzept der Meridiane, auch Leitbahnen genannt (1), ist heutzutage relativ bekannt, denn viele Menschen kommen mit ihm in Kontakt, sei es durch Akupunktur, durch Massagearten wie Shiatsu oder auch über Bewegungsformen wie Qigong oder Taiji. Dieses weit über 2000 Jahre alte Konzept in seiner Ganzheit zu verstehen lohnt sich ungemein, denn es ist – in seinem Kern – so umfassend, dass es uns eine neue Sicht auf die Realität und auf uns selbst eröffnen kann. Im medizinischen Kontext ermöglicht es ein ganzheitliches Verständnis von Krankheit, Heilung und Gesundheit, und in den Kampfkünsten, im Qigong und mithilfe Taoistischer Praktiken und Meditation können wir es für Persönlichkeitsentfaltung, innere Transformation und spirituelle Entwicklung nutzen.
In diesem Artikel werden wir verschiedene Aspekte des Meridiansystems beleuchten, und uns so einem Verständnis der Bedeutung des Meridiansystems für unser Sein annähern. Wir werden das Meridiansystem durch ein uraltes asiatisches Modell über die verschiedenen Ebenen des Seins betrachten, uns philosophische Aspekte vor Augen führen, die Sicht der chinesischen Medizin streifen und anschließend eine Brücke schlagen, zum Bereich der taoistischen Praktiken. Hier werden wir sehen, wie und warum diese Praktiken in der Lage sind, die Entfaltung unseres Meridiansystems auf ein neues Level zu bringen, was gleichbedeutend ist mit tiefer Transformation und spiritueller Entfaltung.
Teil 1: Das Meridiansystem
- Was sind Meridiane?
- Leitbahnen im Model der 5 Ebenen des Seins
- Aufbau des Meridiansystems
Teil 2: Spirituelle Entfaltung mithilfe des Meridiansystems
- Der Taoismus
- Öffnen der Meridiane
- Abschluss
Das Meridiansystem
Was sind Meridiane?
Genau zu definieren, was Meridiane sind, ist keine leichte Aufgabe, denn hierüber herrscht insbesondere in der chinesischen Medizin kein breiter Konsens. Vielmehr wird dieses Thema seit Jahrtausenden diskutiert und unterschiedliche Ansätze kommen zu unterschiedlichen Ergebnissen. Dabei ist es jedoch auch gerade diese Vielfalt, die von großem Wert ist, denn unterschiedliche Ansätze ermöglichen dann auch unterschiedliche Antworten bei bestehenden Problemen.
Wir können uns jedoch, Schritt für Schritt, einem Verständnis der Meridiane annähern und so ein umfassendes Bild bekommen.
Grundsätzlich kann man sagen, dass das Meridiansystem ein Netzwerk aus Energiebahnen ist. In diesem Netzwerk zirkuliert Qi, welches sich an bestimmten Punkten verdichtet. An diesen Stellen finden wir Akupunkturpunkte, über welche man den Fluss des Qi lenken kann, sei es über Nadeln oder andere Arten physischer Stimulation, oder über Konzentration, wie in den Meditationen des Taoismus.
Das Meridiansystem vernetzt alle Strukturen in unserem Körper – alle Organe, Sehnen, Muskeln, Drüsen, usw. – und verbindet uns gleichzeitig mit dem Kosmos und dem kosmischen Qi.
Manche medizinische Systeme, wie beispielsweise die Meridiantheorie gehen noch einen Schritt weiter. Für sie sind die Leitbahnen nicht ausschließlich Kanäle in denen Qi transportiert wird, sondern sie sind lebendig und nehmen aktiv an all unseren Körperprozessen teil. Heißt unsere Meridiane sind nicht einfach Transportwege, sondern sie übernehmen, genauso wie unsere Organe selber, gewisse Funktionen in unserem Körper und agieren somit wie eigene kleine Organe. So erklären sich die großen Möglichkeiten der Einflussnahme auf unsere Gesundheit und auf Prozesse der Heilung über ebendiese Meridiane.
Woher genau das Wissen über die Meridiane und ihre Verläufe ursprünglich stammt, ist nicht geklärt. Spannend ist jedoch die Tatsache, dass man in einer der ältesten Aufzeichnungen über Meridian-Verläufe gleichzeitig Anweisungen zu Atemtechniken taoistischer Praktiken gefunden hat. Es wird daher vermutet, dass Menschen damals über Meditations-Praktiken den Energiefluss im Körper spüren konnten und somit etwas über den Verlauf der Meridiane erfahren haben.
Leitbahnen im Model der 5 Ebenen des Seins
Um ein noch differenzierteres Verständnis über das Meridiansystems zu bekommen, werfen wir einen Blick auf das Model der 5 Ebenen des Seins, ein aus Asien stammendes Konzept zur Erklärung der verschiedenen Seins-Ebenen eines Menschen. Dieses Model ist ausgesprochen hilfreich, wenn es um Fragen der Heilung, der Potentialentfaltung und der spirituellen Entwicklung geht. Auch die Leitbahnen mithilfe dieses Models zu untersuchen, lohnt sich, denn sie vereinen Aspekte aller 5 Ebenen. Je genauer wir diese Zusammenhänge verstehen, umso leichter fällt es uns, unser Meridiansystem gezielt für unsere Entfaltung zu nutzen.
Der Körper – 1. Ebene
Die erste Ebene beschreibt den physischen Körper mit seiner Struktur aus verschiedenen Geweben, Organen, aber auch dem hormonellen System. Wir alle spüren unseren Körper als anwesend mit seiner festen Grenze, seiner Kraft, seinen Beschwerden, usw. Auf dieser Ebene finden wir Materie, die wir sehen und anfassen können.
Der Meridiantheorie zufolge spielt unser Meridiansystem auch auf dieser Ebene bereits eine Rolle, denn die Leitbahnen umfassen, neben dem immateriellen Qi, auch materielle Aspekte wie Blut und Flüssigkeiten.
Hier zeigt sich auch, dass die verschiedenen Ebenen miteinander interagieren. Bei der Meridian-Palpation beispielsweise, wird der Körper entlang der Meridiane abgetastet und aus der Beschaffenheit des Gewebes (Dellen, Verhärtungen, Aufquellungen, etc. ) kann der Therapeut direkte Rückschlüsse auf den Zustand des energetischen Teil unseres Meridiansystems ziehen.
Die Energie – 2. Ebene
Danach kommt die Ebene der Energie, gemeint ist hier die Lebensenergie, die in unserem Körper zirkuliert. Auf dieser Ebene sind unser Nervensystem, unsere Meridiane und unser Qi, die Lebensenergie, angesiedelt. Die chinesische Medizin differenziert an dieser Stelle sehr genau zwischen verschiedenen Arten von Qi und hat unzählige Methoden (Akupunktur, Akupressur, Qigong, uvm.) hervorgebracht, wie man auf dieser Ebene Gesundheit wieder herstellen kann, indem man die Dynamik dieses Qi reguliert.
Auch Qigong und taoistische Meditation arbeitet auf dieser Ebene. Leider werden Qigong und Akupunktur häufig auf diesen Aspekt reduziert, was sie ihres ihnen innewohnenden Potentials beraubt, denn wie wir sehen werden, ist diese Ebene nur ein Teil des Ganzen.
Die Emotionen – 3. Ebene
Die Ebene der Emotionen geht viel tiefer als unsere Energie, wobei es sich auch hier in gewissem Sinne um Energie handelt, jedoch ist diese viel feinstofflicher. Hier sind zum einen unsere Alltagsemotionen gemeint, aber viel wichtiger, ebenso die Emotionen, die tief in unserem Unbewussten verborgen liegen. Emotionen, genauso wie alte Verletzungen und Traumata und damit einhergehende Glaubenssätze und Gedanken, die uns stark prägen, liegen auf dieser Ebene.
Kontakt zu dieser Ebene zu bekommen ist immens wichtig, denn häufig verschließt sie uns den Zugang zu den höheren Seins-Ebenen. Außerdem müssen wir auf dieser Ebene arbeiten, wenn wir aus alten Mustern aussteigen, unser Potential entfalten und unsere Beziehungen heilen möchten.
Bereits in einem der ältesten Texte der chinesischen Medizin, im Huangdi Neijing Su Wen, wurde darauf hingewiesen, dass es eine zentrale Aufgabe des Therapeuten ist, die tiefsten Glaubenssätze, Wertvorstellungen, Hoffnungen und Ängste eines Patienten zu ergründen, um diese Erkenntnisse mit in die Behandlung einzubeziehen.
So haben Akupunkturpunkte neben ihrer Wirkung auf unsere Energie und unseren physischen Körper, immer auch eine Wirkung auf unsere Psyche und unseren emotionalen Zustand. In manchen Akupunktur-Stilen werden bestimmte Punkte benutzt, um tiefsitzende alte Traumata und Prägungen aufzulösen und dem Menschen somit eine neue Freiheit und Entwicklung zu ermöglichen. Auch die moderne Psychokinesiologie macht sich diese Tatsache zunutze, indem sie gewisse Akupunkturpunkte durch Klopftechniken aktiviert, so dass es zur Integration und Auflösung der Traumata kommt.
Ein Beispiel dafür, wie Akupunktur-Punkte auf der psychischen Ebene wirken können:
Herz 5 – Tong li, Verbindung nach Innen
Der Punkt Tong li, nahe des Handgelenks gelegen, ermöglicht eine Verbindung tief ins Innere des eigenen Herzens und hilft, diese Verbindung auch nach außen hin auf gesunde Art und Weise zu zeigen. „Wie sehr ist ein Mensch in Kontakt mit seinem Herzen? Ist das Äußere kongruent mit dem inneren Erleben? Oder zeigt jemand nach außen die Maske des Strahlemanns, während der innere Kern mehr und mehr schrumpft?“ (Josef Viktor Müller, Ben Shen). All dies kann man über den Punkt Tong Li erfahren und auch positiv beeinflussen.
Intuitives Feld – 4. Ebene
Bei der nächsten Ebene handelt es sich um ein tiefes Seins-Feld, welches auch das intuitive Feld genannt wird. Mit diesem Feld kommt man in Kontakt, wenn man auf einem fortgeschrittenen Level meditiert. Hier finden Erfahrungen statt wie: das Erleben von Körperlosigkeit, ein Bezug zu kosmischen Kräften, Nahtoderfahrungen u.v.m. Wenn wir Zugang zu dieser Ebene bekommen, verändert sich unser Leben und unsere Sicht auf die Realität auf gravierende Weise. Wir verstehen uns nicht mehr als getrennte Wesen, sondern fühlen unsere Anbindung an und Unterstützung durch dieses größere Feld. Mystisch gesprochen kann man sagen, dass man auf dieser Ebene eine umfassende Verbundenheit mit der Welt erfährt, während man die Welt und das eigene Ich aber noch als getrennt wahrnimmt.
Spannend zu wissen: Es gibt verschiedene Konzepte in der chinesischen Medizin, die auf diese Anbindung an ein größeres Feld hindeuten und die Tatsache, dass Akupunktur-Punkte die Namen dieser Konzepte tragen, zeugt davon, dass unser Meridiansystem uns Zugang zu dieser 4. Ebene ermöglicht.
Ein Beispiel dafür, wie Akupunktur-Punkte auf der intuitiven Ebene wirken können:
Herz 2 QingLing – Das Erwachen des Geistes
Der Punkt QingLing wird genadelt, wenn ein Mensch an seinem Vermögen zweifelt, mit höheren Ebenen in Kontakt zu kommen, also mit den Ebenen 4 und 5. Ling bezeichnet hier eine himmlische Kraft oder auch eine himmlische Gnade, welche unser Leben durchdringen kann und welche wir beispielsweise in der Meditation erfahren können. Im Schriftzeichen für Ling sind Schamaninnen dargestellt, die den Himmel um Regen bitten und diesen auch erhalten. Genauso kann QingLing uns daran erinnern, dass wir in ein größeres Feld eingebettet sind und wir Hilfe aus diesem Feld erfahren können.
Non-Dualität, Einheit – 5. Ebene
Wenn wir noch tiefer schauen, kommen wir in den Bereich, zu dem alle spirituellen Praktiken am Ende hinführen, zu einer Ebene von Non-Dualität. Hier entstehen mystische Erfahrungen von Einheit und Verbundenheit, die einhergehen mit einer Eingewobenheit in die kosmische Natur. Außerdem kommt es zu einem tiefen Vertrauen ins Leben und einem Gefühl von Zeitlosigkeit. Die Grundqualität mystischer Erfahrung ist, dass das Ich vollkommen transzendiert wird.
Ein Beispiel dafür, wie Akupunktur-Punkte auf der Ebene der Einheit wirken können:
DuMai 13 TaoDao – Straße zur Glückseligkeit
TaoDao ist einer der Punkte, die Tao in ihrem Namen tragen. Dieser Punkt ist der hintere Aspekt des Herzchakras, dessen vorderer Aspekt die Thymusdrüse ist. TaoDao ermöglicht es einem Menschen zu fühlen, dass er Teil des Universums und mit allem verbunden ist. Hier können wir die Ebene wechseln, vom Irdischen ins Licht, weshalb dieser Punkt auch in der Sterbebegleitung verwendet wird.
Meridiane – Vermittler zwischen den Ebenen
Wir haben nun gesehen, dass die Meridiane Anteile der 5 verschiedenen Ebenen unseres Seins, unserer Existenz repräsentieren können. Welche Schlussfolgerung können wir aus dieser Betrachtungsweise der Meridiane ziehen?
Die Meridiane sind eine Schnittstelle zwischen den verschiedenen Ebenen unseres Seins. Je ausgeglichener, feinstofftlicher und offener unser Meridiansystem ist, umso leichter finden wir Zugang zu diesen verschiedenen Ebenen.
Durch diese Erkenntnis wird deutlich, warum es Sinn macht, gezielt mit dem Meridiansystem zu arbeiten, um alle Ebenen unseres Seins zu heilen und zu entwickeln.
Genau hier setzen die Praktiken des Tao und Qigong an. Sie sind in der Lage Stagnationen zu lösen, unsere Meridiane mit Qi zu füllen und dieses Qi zu verfeinern und machen damit unser System lebendiger, transparenter und offener. Wenn dies geschieht, tritt automatisch Heilung auf den Ebenen von Körper, Energie und Emotionen ein und wir finden leichter Zugang zu den Ebenen 4 und 5, was gleichbedeutend ist mit einer tiefen spirituellen Entwicklung.
Um zu verstehen, wie genau Qigong und die taoistischen Praktiken arbeiten, und wie wir diese Methoden gezielt für unsere Entwicklung nutzen können, müssen wir zunächst einmal verstehen, wie unser Meridiansystem aufgebaut ist.
Aufbau des Meridiansystems
Hauptleitbahnen
Der Körper eines Menschen wird von 12 Hauptleitbahnen durchzogen, welche jeweils nach einem der inneren Organe benannt und diesem Organ zugeordnet sind. So gibt es beispielsweise den Lebermeridian, den Herzmeridian, den Lungenmeridian, usw. Gibt es Blockaden in diesen 12 Hauptleitbahnen, führt dies im schlimmsten Fall zu Krankheit. Daher wird diesen 12 Hauptleitbahnen sowohl in der Akupunktur als auch in vielen Qigong-Stilen große Aufmerksamkeit gewidmet, indem ihr Qi-Fluss reguliert und so unsere Gesundheit wiederhergestellt wird. Ihre Harmonisierung und Regulation helfen uns, emotional ausgeglichen, gesund und vital zu bleiben. Für unsere tiefe, spirituelle Entwicklung spielen diese Hauptleitbahnen jedoch eher eine Nebenrolle.
Außerordentliche Gefäße
Neben den Hauptleitbahnen gibt es in unserem Körper noch die sogenannten außerordentlichen Gefäße (2). Hierbei handelt es sich um 8 Leitbahnen, die in der Tiefe unseres Körpers verlaufen. Drei von ihnen sind besonders zentral für unser Verständnis der taoistischen Praktiken: Der sogenannte Du mai (Lenkergefäß), der Ren mai (Konzeptionsgefäß) und der Chong mai (Durchdringungsgefäß), die wir weiter unten ausführlich besprechen werden.
Alle außerordentlichen Gefäße dienen als eine Art Bassin und können überflüssiges Qi und Blut aus den Hauptleitbahnen aufnehmen oder einen Mangel in den Hauptleitbahnen ausgleichen, indem sie Qi und Blut zur Verfügung stellen.
Die Weisen des Altertums planten und bauten Abzugskanäle und Reservoirs, um die Wasserwege offen zu halten und für außergewöhnliche Situationen vorbereitet zu sein. Bei schwerem Regen füllten sich die Kanäle und Reservoirs bis zum Rand. (Nan Jing)
Als vereinfachte Veranschaulichung können wir uns einen Fluss mit zahlreichen Nebenarmen vorstellen. Die Nebenarme stehen für die Hauptleitbahnen, der Hauptfluss für die Außerordentlichen Gefäße. An diesem Bild sehen wir sehr deutlich, dass es natürlich wichtig ist, die Nebenarme in Ordnung zu halten, damit es der Landschaft, durch die sie fließen, gut geht und alles mit Wasser versorgt ist. Gibt es Stauungen, Austrocknung oder Vergiftung in diesen Nebenarmen, so hat dies Einfluss auf die Landschaft in diesem Bereich.
Gleichzeitig zeigt dieses Bild eindrucksvoll, dass in der Regulation des Hauptflusses ein viel größeres Potential liegt. Wenn sich hier das Wasservolumen erhöht, kann es sehr schnell alle Nebenarme frei spülen. Wenn hier zu wenig Wasser vorhanden ist, werden gleichzeitig auch alle Nebenarme austrocknen.
Eine zentrale Idee in den taoistischen Meditationen ist es, kosmisches Qi und Informationen über die außerordentlichen Gefäße aufzunehmen, denn aus Sicht der Taoisten sind es vor allem diese Gefäße, die eine direkte Verbindung zum Kosmos haben. Wie tiefgreifend die Effekte dieser Meditationen sein können, wird anhand des Vergleiches mit dem Fluss deutlich: Wird das Hauptflussbett durchflutet regulieren sich automatisch alle Nebengefäße.
Jedem Anfang wohnt ein Zauber inne
Gerade die tiefen taoistischen Praktiken arbeiten hauptsächlich mit den außerordentlichen Gefäßen, also mit dem Hauptfluss in unserem System. Um zu verstehen, warum dies so effektiv ist und diese Praktiken ein so außerordentliches Potential bergen, lohnt es sich, einen Blick in die Embryologie, die Lehre davon, wie sich eine befruchtete Eizelle zu einem Embryo entwickelt, zu werfen.
Laut der Lehre der chinesischen Medizin beginnt unser Leben nicht etwa mit den Hauptleitbahnen, sondern mit den außerordentlichen Gefäßen.
Man geht hier davon aus, dass einige der außerordentlichen Gefäße bereits in der befruchteten Zelle angelegt sind, noch bevor sich diese Zelle das erste Mal teilt. Dabei läuft eines der außerordentlichen Gefäße, der Chong mai durch die Mitte der Zelle, ein weiteres, der Du mai entlang der Vorderseite, und noch ein weiteres entlang der Rückseite der Zelle. (Vgl. unten Energiekreislauf) Ein viertes außerordentliches Gefäß, der sogenannte Dai mai verläuft horizontal und umkreist somit die anderen 3 Gefäße. Er ist es, der dafür sorgt, dass die Zelle sich zusammenschnürt und schließlich in zwei teilt (3). Die außerordentlichen Leitbahnen haben hier also die Aufgabe, eine Polarität zu erzeugen, damit die Teilung der Zellen beginnt. Sie steuern die Entwicklung der befruchteten Eizelle über die gesamte fötale Zeit.
Anhand der Tatsache, dass die außerordentlichen Gefäße unsere Entwicklung seit Beginn unserer Existenz steuern, wird deutlich, welch großes Potential in ihnen liegt.
Jeder tiefe Prozess von Veränderung in unserem Leben, sei es die Entwicklung des Embryos, das Wachstum in der Kindheit, der Prozess des Alterns, Schwangerschaft und Geburt oder unsere emotionale und spirituelle Entwicklung wird von den außerordentlichen Gefäßen gesteuert.
Diese Tatsache spiegelt sich auch in der Anwendung der außerordentlichen Gefäße in der Akupunktur wider: gerade bei chronischen und schwerwiegenden Erkrankungen, Entwicklungsverzögerung, aber auch bei sehr einschneidenden Störungen und Verletzungen in der Kindheit, werden die Wundergefäße den Hauptleitbahnen in der Behandlung vorgezogen. Die außerordentlichen Gefäße können uns mit unserem Ursprung verbinden und unsere Entwicklung, wie sie eigentlich gedacht ist, wieder ermöglichen.
Teil 2
Spirituelle Entfaltung mithilfe des Meridiansystems
Wie wir gesehen haben, birgt unser Meridiansystem das Potential, uns mit den verschiedenen Ebenen des Seins zu verbinden. Es macht also Sinn, unsere Meridiane gezielt zu entfalten, um uns zu entwickeln und Zugang zu jenen Ebenen zu bekommen. Eines der bemerkenswertesten Systeme, welches diese Herangehensweise wählt, ist der Taoismus und hier insbesondere der Bereich der taoistischen inneren Alchemie. Die Idee der inneren Alchemie ist folgende: Ich verändere – mit Hilfe meines Geistes – meinen inneren Zustand von Energie und mein inneres Befinden grundlegend. Dafür kultivierten die Praktiker der inneren Alchemie über Jahrhunderte eine Vielzahl von Techniken, um unsere Meridiane zu öffnen, und das ihnen innewohnende Potential zu erwecken.
In den folgenden Abschnitten werden wir die wichtigsten Prinzipien dieser Lehren vorstellen, veranschaulichen, welchen Techniken sie nutzen, um die Meridiane zu öffnen, und zeigen, welchen Benefit diese Praktiken für uns haben können.
Taoismus
Um ein tieferes Verständnis zu bekommen, in welchem Kontext diese Praktiken entstanden sind, lohnt es sich, einen kurzen Blick darauf zu werfen, was der Taoismus eigentlich ist. Anders als in anderen Traditionen wie dem Buddhismus, finden wir im Taoismus keine einheitliche Lehre, mit festen Kernpunkten. Der Taoismus basiert grundlegend auf den Weisheitslehren von Laotse, dem Verfasser des Tao Te Ching und den Schriften von Zhuangzi.
Die zentrale Idee im Taoismus ist es, sich über die Körperlichkeit zum Geistigen hin zu entwickeln, heißt, sich selbst zu fühlen und so die eigene wahre Natur zu erfahren. Dabei sind in diese Lehre vielfältige Elemente aus der damaligen Kulturepoche eingeflossen, wie Konzepte aus der chinesischen Medizin, die Lehre von Yin und Yang, das Konzept der 5 Elemente und natürlich das Verständnis des Meridiansystems. Zudem sind Körperübungen, wie inneres Kungfu, Taiji oder Dehn- und Streckübungen, auch Tao-Yin genannt, wichtige Elemente in vielen taoistischen Strömungen.
Der Taoismus ist eine Art Potpourri an verschiedenen Ideen, Disziplinen und Methoden, die ein schlussendliches Ziel teilen: die Wiedervereinigung mit dem Tao.
Ebenso vielfältig wie die Einflüsse des Taoismus sind seine Anliegen. Es ist bemerkenswert, dass es im Taoismus einen großen Fokus darauf gibt, Kompetenzen zu entwickeln, um mit den täglichen Anforderungen des Lebens umzugehen, sowie um Krisen zu meistern. Dies liegt wohl auch daran, dass der Taoismus in einer Zeit entstand, die geprägt war von äußerst schwierigen Lebensbedingungen, so dass das Durchschnittsalter bei nur ca. 35 Jahren lag. Die Taoisten erkannten in diesem Kontext, dass körperliche und emotionale Balance, innere Stabilität und Stärke, Gesundheit, funktionierende Beziehungen und eine gute Verbindung zur Natur Voraussetzungen waren, um länger zu leben und überhaupt in der Lage zu sein, Weisheit und spirituelles Wachstum zu verwirklichen.
Neben diesen alltagsbezogenen Themen versuchten die Taoisten besondere Fähigkeiten zu entwickeln, wie Heilfähigkeiten, Aussenden von Energie, hellsichtige Fähigkeiten, Kommunikation mit Geistern und vieles mehr und schlussendlich lag ein wichtiger Fokus darauf, Weisheit zu entwickeln, tiefe mystische Erfahrungen zu machen und zu einer Einheit mit dem Tao zurückzukehren.
Die Arbeit mit dem Meridiansystem, insbesondere mit den außerordentlichen Gefäßen, war dabei, neben Bewegungsschulen, Medizin, schamanischen Lehren usw. eine der wichtigsten Säulen zum Erlangen der oben genannten Ziele. Die Idee war es, über die Entwicklung des Meridiansystems direkten Zugang zum Leben zu bekommen und so, neben Heilung, Balance und der Entwicklung von Fähigkeiten, ein neues Verständnis der Realität zu entwickeln.
Öffnen der Meridiane
Superpower im Bauch
Die grundlegende Idee im taoistischen Ansatz ist es, den Bauchraum mit sehr viel Qi zu füllen, so dass hier eine Art Superpower entsteht. Hierin liegt zugleich die Besonderheit des Taoismus, denn keine andere spirituelle Tradition der Welt legt einen derartigen Fokus darauf, Qi im Bauchraum zu kultivieren. Um eine Power im Bauch zu erzeugen, gibt es verschiedene Techniken, generell aber wird kosmisches Qi über Akupunktur-Punkte in die außerordentlichen Gefäße eingeatmet und im Bauchraum verdichtet.
Folgende Akupunktur-Punkte sind hierbei von besonderer Bedeutung:
Ren 1 – Huiyin, Treffpunkt des Yin
Ren 1 liegt auf dem Beckenboden im Bereich zwischen Anus und Geschlechtsorganen. Er ist von fundamentaler Bedeutung in den taoistischen Praktiken, denn hier treffen sich Ren mai, Du mai und Chong mai, 3 der außerordentlichen Gefäße. Ren 1 ist der tiefste Yin-Punkt des Körpers und steht in Verbindung mit der Kraft der Nieren, unserer Libido und unserer Ursprungs-Energie. Diese Kombination verschiedener Kräfte macht ihn zur idealen Quelle, um den Bauchraum mit Qi zu füllen. Gleichzeitig ist er durch seine starke Yin Qualität der wichtigste Regenerationspunkt unseres Körpers und versetzt Menschen, wenn sie hier ankommen können, in die Lage tief loszulassen, aus Alltagsmustern auszusteigen und ermöglich dadurch überhaupt erst, dass sie die Kräfte des Kosmos in der Meditation aufnehmen können.
Du 4 – Mingmen, Tor des Lebens
Du 4 liegt auf dem unteren Rücken auf Höhe des zweiten Lendenwirbelkörpers. Er beeinflusst das Mingmen-Feuer, ein Konzept der chinesischen Medizin, welches für die Wärme, Kraft und Energie unseres Körpers zuständig ist. So ist es die Quelle aller lebendigen Funktionen unseres Körpers. Außerdem stärkt dieser Punkt insbesondere die Nieren und reguliert den Du mai, Das Lenkergefäß.
Ren 8 – Shenque, Palast des Geistes
Der dritte Punkt, über den Qi aufgenommen wird, um anschließend im Bauchraum gespeichert zu werden, ist Ren 8, unser Bauchnabel. Weil wir in der Fötalzeit über diesen Punkt genährt wurden, können wir über ihn besonders leicht kosmisches Qi aufnehmen. Dieser Punkt ist auch ein gutes Beispiel dafür, dass Akupunktur-Punkte emotionale Qualitäten aktivieren können: Durch Stimulation dieses Punktes in der Meditation entsteht eine tiefe innere Stabilität.
Wichtig zu wissen: In diesem Zusammenhang wird auch Ren 6 – Qihai, dasMeer des Qi, ca. 2 fingerbreit unter dem Nabel gelegen, aktiviert, einer der am stärksten aufbauenden Punkte unseres Körpers
Diese Praktik, Energie im Bauchraum zu sammeln und zu verdichten, entfaltet für sich genommen bereits tiefgreifende Effekte. Durch sie werden innere Stärke und Vitalität erzeugt, das gesamte Energieniveau hebt sich an und wir besitzen mehr Kraft für Heilungsprozesse. Ein besonderer Bereich in den Praktiken der Alchemie zielt darauf ab, diese Lebenskraft im Bauch zu verfeinern und zu kultivieren, indem Liebe und Libido im Bauchraum vereinigt werden (4).
Qi öffnet die außerordentlichen Gefäße
Was aber geschieht nun mit dieser Superkraft im Bauch und wie ist der Bezug zu unserem Meridian-System? Wie wir oben gelernt haben, beginnt unser Leben, aus Sicht der chinesischen Embryologie, mit den außerordentlichen Gefäßen. Sie sind die tiefste Instanz, von der aus unser System reguliert wird, all unser Wachstum und unsere Entfaltung, sowohl körperlich, seelisch und spirituell hängen von ihnen ab.
Die zentrale Idee der Taoisten war es, diese für uns so wichtigen außerordentlichen Gefäße mit dem Superpower-Qi des Bauchraumes zu durchfluten. Dieses Durchfluten der außerordentlichen Gefäße führt zu mehreren Effekten: Zum einen werden bestehende Blockaden in diesen Gefäßen gelöst, was zu tiefen Heilungsprozessen führen kann.
Darüber hinaus geschieht aber etwas noch viel Erstaunlicheres: Wenn die außerordentlichen Gefäße regelmäßig mit kosmischem Qi durchflutet werden, hebt sich ihr Energieniveau um ein vielfaches. Man hat, mithilfe von Biofeedback-Messungen, herausgefunden, dass der Energiefluss bei Meistern dieser Praktiken um das 30 fache, gegenüber einem Leistungssportler erhöht ist. Das Spannende: Würde ein „normaler“ Mensch mit einem derartigen Energiefluss durchströmt, würde derjenige kollabieren.
Dieser erhöhte Energiefluss ist es, der die Meridiane auf ein neues Level der Öffnung anhebt, nämlich auf die Ebenen 4 und 5 aus unserem oben genannten Model. Heißt, in den Meridianen fließt nicht mehr nur Energie, sondern sie sind so offen, dass sie sich mit dem Kosmos selbst verbinden. So werden die Meridiane zu einer Brücke zu tieferen Seinsebenen. Sie heben unsere Persönlichkeit hinauf in einen egofreien Zustand und bieten somit die Chance, unserer wahren Natur und damit einer mystischen Erfahrung nahe zu kommen.
Du mai, Ren mai, Chong mai
Zwei der bekanntesten taoistischen Praktiken, in denen die außerordentlichen Gefäße geöffnet werden, sind der Energiekreislauf und Meditationen mit dem Zentralkanal. Hierbei werden hauptsächlich die bereits erwähnten Meridiane Du mai, Ren mai und Chong mai geöffnet.
Du mai:
Der Du mai, auch bekannt unter dem Namen Lenkergefäß, wird auch als „Meer des Yang“ bezeichnet. Er entspringt am Beckenboden und verläuft entlang der Wirbelsäule, über den Schädel bis zur Oberlippe. Er kontrolliert alle Aspekte, die mit dem Yang unseres Körpers zu tun haben, heißt er ermöglicht alle aktiven Funktionen unseres Körpers, sei es Bewegung, die Funktion unserer Organe oder der Wärmehaushalt. Außerdem unterhält der Du mai eine enge Beziehung zu den Nieren, dem Knochenmark, unserem Gehirn und den Sexualorganen.
Ren mai:
Der Ren mai, auch Konzeptionsgefäß genannt, wird als das Meer des Yin bezeichnet. Folglich reguliert er alle Yin-Funktionen unseres Körpers, sprich das Nähren, Befeuchten, Bewahren und Halten. Er hat einen wichtigen Bezug zu Herz, Lunge und Magen und sorgt für den harmonischen Ablauf unserer Lebenszyklen. Er entspringt ebenfalls im Beckenboden und verläuft entlang der Mitte der Vorderseite bis zum Unterkiefer. Durch seinen Verlauf auf der Vorderseite des Körpers hat er einen engen Bezug zu den Drüsen des hormonellen System, sprich zu den Geschlechtsdrüsen, dem Pankreas, der Thymusdrüse, der Schilddrüse und den endokrinen Düsen im Gehirn.
Chong mai:
Der Chong mai ist auch bekannt unter dem Namen Durchdringungsgefäß. Er wird angesehen als das Meer des Blutes, das Meer aller Organe, das Meer aller Leitbahnen und das Meer von Wasser und Getreide (also alles, was uns ernährt). Diese Vielzahl seiner Beinahmen zeigt bereits, welch außerordentliche Stellung er einnimmt.
In der Sicht der chinesischen Medizin verläuft er über die Vorderseite des Körpers und besitzt zugleich einen Ast, der tief durch die Wirbelsäule verläuft. Die Taoisten benutzen in ihren Meditationen des mittleren Kanals einen alternativen Verlauf, nämlich vom Beckenboden, durch die Mitte des Bauchraumes, genannt das untere Dantien, durch das Herzzentrum, durch den Bereich in der Mitte des Kopfes, wo auch die endokrinen Drüsen liegen, senkrecht bis zum Scheitelpunkt. Warum dies so ist, sehen wir weiter unten.
Der Energiekreislauf
Eine Geschichte von Carsten
Als ich das erste Mal mit dem Energiekreislauf in Kontakt kam, hatte ich bereits um die 10 Jahre Erfahrung mit Meditation gesammelt. Ich hatte seitdem ich 16 war, bis Mitte 20, in Taiwan und auch in Klöstern in Stille meditiert und dabei vor allem die Erfahrung
gemacht, tief zur Ruhe zu kommen. Gleichzeitig hörte ich immer wieder davon, dass es bei den Taoisten bestimmte Praktiken gab, die eine Kraft im Bauchraum kreieren und in der Lage sind, den Körper tief zu regulieren. Während meiner Zeit in Taiwan erhielt ich auch Privatunterricht bei verschiedenen Meistern des Qigong und Taiji und suchte auch hier stehts danach diese Kraft im Bauchraum zu kultivieren, doch selbst in diesem engen Kontakt mit privaten Lehrern war ich nicht in der Lage echten Zugang zu finden zu diesen Praktiken.
Als ich anfing meine Magisterarbeit über Qi zu schreiben, kam ich zu Mantak Chia, einer der weltweit bekanntesten Tao-Meister und Experten der inneren Alchemie, der gerade zufällig in der Nähe unserer Universität in Hamburg ein Seminar gab.
Diese Begegnung war wie eine Revolution für mich, ein völliger Neustart, denn Mantak Chia lehrte die innere Alchemie auf eine Art und Weise,wie ich sie vorher nicht erlebt hatte.
Wir praktizierten den Energiekreislauf und ich habe gleich zu Beginn einen riesigen Effekt gefühlt, es war, als würde eine Rakete durch meine Wirbelsäule aufsteigen, was sicherlich auch daran lag, dass ich durch meine jahrelange Taiji und Kungfu-Praxis entsprechend vorbereitet war. Es stellten sich tiefe Regenerations- und Heilungssymptome ein und ich bemerkte, wie meine Wahrnehmung der Welt sich veränderte. Niemals zuvor hatte ich derartige Erfahrungen gemacht und sie veränderten meine gesamte Vitalität und meine Sicht auf das Leben grundlegend.
Überblick über den Energiekreislauf:
Beim sogenannten Energiekreislauf wird das im Bauchraum gesammelte Qi über den Beckenboden in das Steißbein, Kreuzbein und durch die Wirbelsäule nach oben ins Gehirn geleitet. Dies entspricht dem Verlauf des Du mai. Vom Gehirn aus fließt es auf der Vorderseite des Körpers entlang des Ren mai hinab bis in die Beine und in die Erde. Hierdurch werden die außerordentlichen Gefäße geöffnet, was wiederum bewirkt, dass kosmisches Qi über wichtige Akupunkturpunkte, wie dem Scheitelpunkt, dem dritten Auge, dem Beckenboden, die Füße, u.v.m. aufgenommen wird.
Wie wir oben gesehen haben, ist der Energiekreislauf bereits in der Fötalzeit angelegt und indem wir ihn kultivieren, können wir zurück finden zu einer tiefen inneren Balance von Yin und Yang und zu unserem Ursprung , und so ein tiefes inneres Ankommen und Genährt werden erleben. Wir kehren zurück zu einer inneren Verbundenheit mit uns selber, wie wir es als Embryo erlebt haben. Zugleich führt die regelmäßige Praxis der Meditation des Energiekreislaufs dazu, dass er weit über sein ursprüngliches Maß hinaus aktiviert wird. Das heißt, es findet eine Art Evolution dieses Kreislaufs statt.
Der Energiekreislauf ist die berühmteste Meditation der Taoisten für innere Balance, Selbstheilung, Langlebigkeit und Vitalität. Gleichzeitig entwickelt seine Praxis bereits gewisse intuitive Fähigkeiten und Heilkräfte. Dennoch gilt er in den taoistischen Praktiken als eine Art Basispraxis der Balance, um dann in höhere Praktiken einzutauchen, welche generell eher mit einer Öffnung des Chong mai einhergehen.
Der Mittlere Kanal
In der Meditation des mittleren Kanals, wird eine Lichtröhre gebildet, vom Beckenboden durch das untere Dantien, durch das Herzzentrum, durch den Kristallpalast in der Mitte des Kopfes senkrecht bis zum Scheitelpunkt und darüber hinaus. Wie wir bereits gelernt haben, praktizieren die Taoisten diese Meditation zum Öffnen des Chong mai, auch wenn er traditionellerweise in der chinesischen Medizin einen anderen Verlauf hat. In dieser Meditation wird eine Achse kreiert zwischen Himmel und Erde, was dazu führt, dass man eine Verbindung zu diesen Kräften etabliert, welche dann die Meridiane füllen, was im fortgeschrittenen Stadium auch mystische Erfahrungen eröffnen kann. Gleichzeitig werden durch diese Vorgehensweise wichtige Energiezentren und Chakren mit einbezogen.(5)
Die Meditation des mittleren Kanals wirkt auf der körperlichen Ebene zutiefst nährend und aufbauend, setzt Heilungsprozesse in Gang und kreiert durch die Verbindung Beckenboden – Scheitel einen Ausgleich von Yin und Yang. Darüber hinaus ermöglicht sie tiefe mystische Erfahrungen, besonders wenn sie kombiniert wird mit Anteilen stiller Meditation.
Effekte
Wenn unser Bauchraum mit Qi gefüllt ist, wir in den Meditationen ein tiefes Level erreichen und die außerordentlichen Gefäße sich wirklich öffnen, können sich verschiedene Effekte einstellen:
- Das Qi dringt tief nach innen und öffnet die Leitbahnen. Ein Zeichen dafür ist es, wenn uns nach der Meditation für eine gewisse Zeit sehr kalt ist, denn das Qi befindet sich nun im Inneren des Körpers und kann unsere Oberfläche nicht mehr wärmen.
- Durch die Öffnung der Meridiane können sich tiefsitzende alte Gefühle, Bilder, etc. zeigen und lösen.
- Verschiedene, für kurze Zeit auftretende körperliche Symptome wie Kopfschmerzen, Krämpfe im Unterleib, ein verändertes Körpergefühl, emotionale Ausbrüche, u.v.m.
All diese Symptome sind Zeichen aufbrechender Blockaden und Ausdruck eines Heilungsprozesses. - Tiefe Träume, Albträume oder Träume mit Visionen, als Zeichen, dass Altes unser Unbewusstes verlässt und neue Potentiale sich öffnen.
- Körperliche Heilung, ein verändertes Körperempfinden
- Neue Sichtweisen, Inspirationen, Ideen, neue Fähigkeiten
- Tiefe Mystische Erfahrungen
Abschluss
Ein Schlusswort von Chiara:
Während meines Studiums der chinesischen Medizin lernte ich, neben der Lehre von den Hauptleitbahnen, alles über die außerordentlichen Gefäße. Ich erfuhr, dass sie so wirkungsvoll sein können, dass ihre Effekte Wundern gleichen, was ihnen im deutschsprachigen Raum den Namen Wundergefäße eingebracht hat. In der Praxis jedoch fiel mir auf, dass nur wenige Therapeuten die Wundergefäße in die Therapie einbezogen, und dass die Resultate zwar manchmal verblüffend waren, dass sie jedoch häufig nicht lange und nachhaltig anhielten.
Als ich dann einige Jahre später die taoistischen Praktiken lernte, war ich verblüfft. Nach besonders tiefen Meditationen bemerkte ich an mir Symptome, die dem Öffnen der außerordentlichen Gefäße entsprachen. Gleichzeitig stellten sich tiefgreifende Heilungsprozesse und Veränderungen meines Körpers und meiner Psyche ein. Mir dämmerte es allmählich, dass diese Meditationen in der Lage waren, die für uns so elementaren und tiefgreifenden außerordentlichen Gefäße zu öffnen, und das weit über alles hinaus, was ich je durch Akupunktur erlebt hatte. Besonders spannend war für mich die Tatsache, dass die Effekte, bei regelmäßigem Praktizieren, nicht nur nachhaltig waren, sondern im Gegenteil immer tiefer wurden und sich allmählich auf eine spirituelle Entwicklung ausdehnten.
Diese Tatsache hat mich tief berührt, denn ich erkenne in den taoistischen Praktiken eine Chance für Menschen, tiefe Heilung und spirituelles Wachstum zu erlangen und noch dazu, diese Prozesse in die eigenen Hände nehmen zu können.
Weil ich bemerkt habe, dass viele Praktizierende des Qigong und der taoistischen Praktiken nur wenig über das Meridiansystem wissen, war es mir ein Herzensanliegen diesen Artikel zu schreiben. Ich hoffe, er kann zu einem neuen Verständnis beitragen und im besten Fall die Motivation für die Praxis vertiefen.
(1) Die Begriffe Leitbahnen und Meridiane werden wir in diesem Artikel synonym verwenden.
(2) Die außerordentlichen Gefäße, werden im deutschsprachigen Raum auch als sog. Wundergefäße bezeichnet.
(3) Siehe auch „Die acht außerordentlichen Gefäße – Qi Jing Ba Mai“ von Birgit Ziegler, Zeitschrift Qi 04/2022