Auf der Suche nach Lebendigkeit

Eine Einführung in die Essenz von Qigong und Taoismus

  • Die Auflösung chronischer -Muskelverpannungen und Fehlhaltungen
  • die Stärkung und Reinigung des Körpers und
  • die Sensibilisierung der Wahrnehmung.

Ein Artikel von Carsten Dohnke.

(veröffentlicht im „Magazin vom Taiji & Qigong Netzwerk“,)

Qigong ist der moderne Name eines komplexen Übungssystems, das aus der Tradition des Taoismus und der chinesischen Medizin hervorgegangen ist. CARSTEN DOHNKE beschreibt die drei Säulen dieser Praktiken der Lebenspflege und zieht einen Vergleich zu westlichen Körpertherapien.

Qigong wird in erster Linie mit dem Ziel ausgeübt, den Fluss der Lebensenergie Qi im menschlichen Körper zu fördern. Traditionell chinesischer Auffassung zufolge werden der ganze Kosmos und auch der menschliche Körper von dieser Energie durchdrungen und beseelt. Fließt das Qi harmonisch und in Fülle, dann fühlen wir uns gesund und ausgeglichen, sprühen vor Vitalität und innerer Kraft.

In Kurzform: Wir fühlen uns lebendig und erleben eine Veränderung der Wahrnehmung von uns selbst und der Welt.

DIE AUSGANGSSITUATION

Menschen verschiedenster Kulturen und Epochen haben immer wieder festgestellt, dass jedes Wesen die Neigung besitzt, seine eigene Lebendigkeit im Verlaufe seines Lebens immer mehr einzuschränken, den Grand möglicher innerer Erregung, wie er oft bei Kindern vorzufinden ist, allmählich und meist unauffällig zu drosseln. Das geschieht unter anderem dadurch, dass man einige Körperbereiche nur noch eingeschränkt bewegt, bestimmte Muskeln chronisch anspannt und eine innere wie äußere Haltung zu seiner eigenen macht, die Ausdruck eines deutlich vorherrschenden Gefühls ist, alle anderen Gefühle aber ignoriert.

Bereiche des Körpers, die permanent angespannt sind, werden nicht ausreichend mit Blut und Energie versorgt und lassen sich nur eingeschränkt wahrnehmen. Wer seinen Beckenbereich kaum bewegen kann, wird nur schwer Zugang zu seiner Libido und zu seinen Hauptenergiequellen bekommen. Genauso wenig kann jemand, der aus Angst immer die Schultern hochzieht oder ständig einen krummen Buckel macht, ein intensives Gefühl der Freude empfinden. In der Umgangssprache wird dieser Zusammenhang oft deutlich zum Ausdruck gebracht. Redewendungen wie „Der trägt aber eine Last auf den Schultern!“ sind mehr als geläufig.

Es besteht eine lebendige Wechselwirkung zwischen Körper und Geist: Einstellungen zum Leben, zu anderen und zur Welt setzen sich im Körper fest und werden durch ihn auch weiterhin festgehalten. Ob die Einschränkung der eigenen Lebendigkeit immer durch unausgedrückte Gefühle hervorgerufen wird, ist heute Streit der Experten. Die Ursachen chronischer Fehlhaltungen können vielleicht ebenso in falschen Gewohnheiten oder angeborenen körperlichen Schwächen liegen, die ja jeder von uns nur zu gut kennt.

WAS IST ZU TUN?

Was kann ich unternehmen, um mich ganz lebendig zu fühlen? Zuerst einmal das: Ich versuche, die chronischen Muskelverspannungen und Fehlhaltungen der Wirbelsäule bzw. des Skelettapparates allmählich zu beseitigen. Eigentlich verfolge ich hauptsächlich dieses eine Ziel: ganz natürlich und gerade zu stehen, ohne irgendetwas zu tun. Wenn ich so dastehe, sammelt sich meine Energie automatisch in meiner natürlichen Mitte.

Oft bedarf es nur einiger kleiner Korrekturen. Aber sie brauchen Zeit. Es ereignet sich nämlich ein tiefgreifender Prozess: Die im Körper festgehaltenen und verborgenen Gefühle kommen wieder an die Oberfläche und müssen Schritt für Schritt verarbeitet werden. Diese Verarbeitung geschieht meist auf zwei Ebenen, auf der körperlichen und auf der emotionalen Ebene. So kann es vorkommen, dass ich mich plötzlich wütend oder traurig fühle, auch wenn eigentlich gar kein Anlass dazu besteht. Vielleicht fange ich aber auch an zu schwitzen, spüre ein gewisses Unwohlsein oder habe Verdauungsprobleme. All diese Prozesse sind positiv zu bewerten. Sie sind eine Antwort des Körpers auf die Situation und dienen nur dem Zweck, wieder einen Zustand innerer Ausgeglichenheit zu erreichen. Sobald man anfängt, sich geistig und körperlich zu entspannen, beginnt der Körper diesen Prozess der Selbstregulation. Die Beseitigung chronischer Fehlhaltungen und Muskelverspannungen reicht aber noch nicht aus, um ein intensives Gefühl des Lebendigseins zu erleben. Sie ist nur eine der drei (Haupt-)Säulen des Qigong. Diese Säule hat das Qigong mit vielen westlichen Ansätzen der Körperarbeit und Therapie gemeinsam.

DREI SÄULEN DES QIGONG

Im Qigong gibt es aber noch zwei weitere: die Stärkung und Reinigung des Körpers und die Sensibilisierung der Wahnehmung.                                        

Wer Qigong übt, verbringt viel Zeit damit, seinen ganzen Körper zu kräftigen. Das dient nicht nur dem Zweck, vor Erkrankungen gewidmet zu sein, sondern vornehmlich dem Ziel, ein hohes Potential an Energie in sich aufnehmen zu können. In der Regel geschieht die Stärkung des Körpers durch lang anhaltende Stehübungen in Verbindung mit besonderen Atemtechniken: Man steht wie ein Fels und hat dabei das Gefühl, dass aus den Füßen Wurzeln hervorspriessen, die immer tiefer in den Boden dringen. Der Atem wird ruhiger und feiner. Seine Kraft erfüllt den ganzen Unterbauch. Warum gerade diese Übung, die in Fachkreisen „Stehende Säule“ oder auch „Den Baum umarmen'“ genannt wird, dem Aufbau des gesamten Körpers dienlich ist, ist dem Laien oft ein Mysterium. Nach außen hin passiert ja so gut wie gar nichts.


Gerade darin liegt aber das Geheimnis. Die Stärkung beginnt von innen und von unten: Der Unterbauch dehnt sich zu allen Seiten aus. Der tiefe Atem massiert und reinigt die inneren Organe. Ein Gefühl der Wärme breitet sich im Zentrum aus und dringt von dort aus langsam in die Peripherie. Von den Füßen her steigen feine energetische Vibrationen in die Beine hinauf und durchfluten allmählich den ganzen Körper. Mit zunehmender Übungszeit verwandelt sich der Stehende in ein pulsierendes Energiefeld. Dieser Effekt kann nur eintreten, weil die Stärkung des Körpers im Qigong im Zentrum und an den Wurzeln beginnt: Sie trifft den Übenden direkt in seiner Essenz.

DIE SENSIBILISIERUNG DER WAHRNUNG

Die Sensibilisierung der Wahrnehmung ist die dritte Säule des Qigong. Fast alle wichtigen und bekannten Qigong-Übungen dienen hauptsächlich der Sensibilisierung, also der immer feineren und differenzierteren Wahrnehmung des Körpers, der Gedanken und der Außenwelt. Sensibilität bedeutet aber nicht nur, dass der Übende für die Stimmung der Mitmenschen und die Ereignisse seines Umfelds empfänglicher wird, weil er die Welt mehr aus seiner Mitte heraus betrachtet.

Die eigentliche Veränderung der Wahrnehmung ereignet sich auf einer anderen, der energetischen Ebene: Je tiefer der Übende in die Praxis des Qigong eindringt, desto mehr nimmt er wahr, dass auch um den Körper herum ein feines energetisches Feld existiert. Beginnt er, dieses Feld als Teil seines eigenen Wesens zu begreifen, dann verwischen allmählich die üblichen Grenzen seines Körpers: Das energetische Feld entwickelt sich zu einem sechsten Sinnesorgan. Es wird zu einer Art Spürzone, mit deren Hilfe er die energetische Ausstrahlung der Mitmenschen und der Umwelt direkt – also ohne weitere Sinneseindrücke – erfassen kann. Statt intellektueller Analyse rückt die Intuition in den Vordergrund der Wahrnehmung.

DIE HARMONIE DER GEGENSÄTZE

Die Interaktion zwischen Körper und Geist, die ja auch durch Stärkungs- und Sensibilisierungsübungen stattfindet, geschieht nicht nur im Bereich der Muskulatur und des Skelettapparats. In Wahrheit ist der ganze Körper Ausdruck und Begrenzung meines Wesens, denn das Wechselspiel zwischen Körper und Geist ereignet sich auf allen möglichen Ebenen. Die Gelenke, Organe, das Bindegewebe und das Knochenmark gehören ebenso dazu wie die Muskulatur, die Wirbelsäulenhaltung, die Sehnen, die Haut und alles andere.

Durch das Verständnis dieses auf alle Bereiche ausgedehnten Wechselspiels wird ein entscheidender und oft missverstandener Punkt besonders deutlich: Es ist nicht nur das Ziel meditativer Übungen, einen tiefen Entspannungszustand zu erreichen, sondern alle Teile des Körpers in einem harmonischen Zusammenspiel zu erleben.
Viele Menschen besuchen einen Meditations- oder Qigong-Kurs mit der Idee, sich endlich einmal zu besinnen oder zur Ruhe zu kommen. Die Idee von  Qigong ist es ja, innere Ausgeglichenheit, Harmonie und eine Beruhigung des Geistes zu erreichen. Aber dieses Ziel wird nicht erlangt, wenn man sich einfach nur entspannt. Kurz gesagt: Harmonie und Lebendigkeit benötigen eine Struktur.

Spannung und Entspannung kommen immer zusammen. So spricht man im Qigong davon, dass Yin und Yang stets aufeinander einwirken müssen. Wirkliche Ausgeglichenheit wird erst erzielt, wenn entgegengesetzte Aspekte sich miteinander ergänzen. Das ist gut am Beispiel eines Flusses zu verstehen: Wenn ein Mensch lange Zeit übt, dann wird er zu einem großen Strom. Durch einen Strom fließen gewaltige Mengen Wasser. Beobachtet man sein Fließen, so empfindet man ein Gefühl der Harmonie und Lebendigkeit. Wenn jetzt das Flussbett oder der Deich zerstört wird, dann tritt der Strom über die Ufer. Vielleicht bildet sich dort ein See, aber das Fließen und die Lebendigkeit hören auf. Der Fluss fließt nicht ohne sein intaktes Flussbett.
Genauso ist es auch beim Menschen: Ein harmonischer und lebendiger Mensch ist ein Gefäß für Gefühle, Empfindungen und Erregung. Je schwächer und poröser das Gefäß ist, desto geringer ist der Grad der inneren Erregung.

Am Beispiel der korrekten Haltung erklärt bedeutet das: Es ist nur möglich, aufrecht zu gehen, wenn ich bestimmte Muskelpartien anspanne. Der Körper steht nicht von alleine. Diese Grundanspannung gibt mir die Möglichkeit innerer Erregung. Verringere ich sie über ein bestimmtes Maß hinaus, dann führt das zum Verlust meiner Lebendigkeit. So einfach ist das.

ATEM, GEDANKEN, BEWEGUNG

Wenn ich jetzt ganz konkret anfangen möchte zu üben, sollte ich mich dreier Hilfsmittel bedienen. Ich benötige die Kraft meiner Gedanken, die Fähigkeit, meinen Atem zu regulieren und die Möglichkeit, mich zu bewegen. Aus der geschickten Kombination dieser drei Hilfsmittel setzen sich alle Qigong-Übungen zusammen. Zum besseren Verständnis werden sie in Basisübungen und höhere Übungen unterteilt:
Typische Basisübungen des heutigen Qigong sind z.B. gymnastikähnliche Streckübungen, Selbstmassage, spezielle Atemtechniken, Visualisierungen, Erdungsübungen, Übungen für die gerade Haltung, langsam ausgeführte Tierbewegungen, einfache Meditationspraktiken, Taiji-Bewegungen und heilende Laute.
Viele dieser Praktiken erscheinen dem Laien oft etwas geheimnisvoll. In Wahrheit ähneln sie aber in vieler Hinsicht den heute im Westen verbreiteten Gesundheitspraktiken, Entspannungsmethoden und Therapieformen. Dazu zählen unter anderem viele körperorientierte Psychotherapien, klassische Heilmassage, autogenes Training, biodynamische Massage, Feldenkrais-Training, positives Denken, Aura-Arbeit und vieles mehr.

Die Gemeinsamkeit der verschiedenen Methoden mit den Basisübungen des Qigong besteht darin, dass beide Ansätze das Ziel haben, Gesundheit und Lebendigkeit wiederherzustellen oder zu erhalten: Sie geben dem einzelnen Menschen die Möglichkeit, seine Erkrankungen zu heilen und sich von seinen Hemmungen und festgefahrenen Verhaltensstrukturen zu befreien, so dass er zu einem glücklichen und aktiven Wesen werden kann – er  hat die Möglichkeit, seine Gefühle auszudrücken, seine Wünsche und Ziele zu verfolgen und die Freuden der Sinne zu genießen.
Höhere Stufen des Qigong gehen über den Ansatz und die Idee der körperlichen und emotionalen Gesundung des Menschen weit hinaus. Sie werden zwar oft unterrichtet, sind aber nur nach langen Jahren des ernsthaften Übens zu meistern.
Auf diesen Stufen, die gleichzeitig den Kern der Weisheitslehre des Tao ausmachen,  erlernt man Techniken zur geistigen Transformation von negativen Gefühlen, die Umformung von sexueller Energie in Bewusstsein, Heilung durch Übertragung von Qi und tiefe, innere Versenkung. Solche Techniken werden in den herkömmlichen westlichen Ansätzen der Körperarbeit nicht gelehrt.

MEDITATIVE ÜBUNGEN

Deutliche Parallelen finden sich dagegen im Vergleich mit den verschiedenen Yoga-Systemen, dem Buddhismus und Zen-Buddhismus, den Tantra-Systemen und der christlichen Mystik. Die meditativen Übungen all dieser geistigen Traditionen lassen sich, genau wie die höheren Stufen des Qigong, nicht losgelöst von ihrem geistigen Hintergrund praktizieren. Sie sind eingebettet in das Verständnis ethischer Grundhaltungen und entfalten erst hierdurch ihre volle Wirksamkeit. Denn nicht das private Glück des einzelnen Menschen, sondern die Verknüpfung des Menschen mit dem Kosmos ist das eigentliche Ziel dieser Übungen.
Das erfordert die innere Bereitschaft des Einzelnen, sein Selbst, mit all seinen Wünschen, Gefühlen und Ansichten über die Welt, in den Hintergrund zu stellen und seine Sinne ganz nach innen zu richten. (Bild: taoistische Meditation).

WAS IST QI?

Eines der größten Missverständnisse im Bereich des Qigong und der Meditation ist durch den Begriff Qi entstanden. In China und auch unter den Qigong-Praktizierenden des Westens spricht man dauernd von Qi. Hinter dem Wort verbirgt sich jedoch für viele die große Unbekannte. Einige Stimmen fragen daher nach einer konkreten Definition des Begriffs oder meinen, diese bereits gefunden zu haben.
Auch wenn solch eine Definition sehr wichtig ist und wahrscheinlich viele Missverständnisse klären wird, sollte eines nicht vergessen werden: Qi ist nur ein Name. Ein Name für etwas, was man selbst erfahren kann. Und irgendwie hat es mit Lebendigkeit zu tun. Deshalb frage ich gerne zurück: „Was ist denn Leben?“

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