Innere Alchemie in unserer modernen Zeit

Ein Artikel von Carsten Dohnke.

(veröffentlicht im „Magazin vom Taiji & Qigong Netzwerk“, Dez. 2019)

Vor einigen Tagen wurde mir in einem Youtube-Interview folgende Frage gestellt: Was brauchen die Menschen in dieser modernen Zeit der Digitalisierung? Meine Antwort war: eine Verbundenheit mit ihrem Körper,die Möglichkeit für einen inneren Heilungsprozess und die Verbindung zu den eigenen Ressourcen. Genau dies ist die Essenz der Inneren Alchemie. Und um es einmal vorweg zu nehmen: Diese wichtige Strömung des Taoismus prägt bis heute indirekt fast alle Stile des Qigong.

Was bedeutet eigentlich „Innere Alchemie“?

Wenn man den Begriff Innere Alchemie hört, klingt es erst einmal nach Mittelalter. Eine kurzgefasste Definition macht es aber interessanter: Innere Alchemie bedeutet, dass wir durch den Fokus unseres Geistes in der Lage sind, unsere Lebenskraft zu leiten und zu zentrieren sowie emotionale Zustände zu verändern. Dadurch können wir eine tiefe Verbundenheit zu uns selbst und zum Leben erfahren. Anders ausgedrückt: Mit Hilfe unseres Geistes können wir im Körper biochemische Prozesse hervorrufen, die unseren gesamten Seins-Zustand verändern. Neben Selbstheilung und Vitalität geht es den Anhängern der Alchemie dabei um ein Ziel: sie möchten durch die reinigende Wirkung der Meditation einen Zugang zu ihrer wahren Natur bekommen. Dieser Zugang soll die Grundlage für eine mystische Erfahrung bilden – ein Eins-Sein mit dem Leben oder die Erfahrung grenzenloser Freiheit. Unter anderem wird dies auch als Befreiung vom „Ego“ oder von allen Leiden definiert. Viele Schulen der taoistischen Tradition strebten aber auch das Ziel eines „Lichtkörpers“ an. Ähnlich wie bei den Buddhisten ist hier die Idee, dass dieser energetische Körper nach dem Tode in einer anderen Dimension weiter existieren kann. Eine schwer umzusetzende Sache, wie wir uns vorstellen können.Im Taoismus gab es übrigens zwei weitere Ausrichtungen: schamanistische Strömungen, die Verbindungen zu höheren Welten anstrebten, sowie verschiedenste Gruppieren, die hauptsächlich Gesundheit und Langlebigkeit verfolgten. Beides finden wir auch im heutigen Qigong wieder.

Und was bedeutet „Äußere Alchemie“?

Die Innere Alchemie stand im alten China über Jahrhunderte der Äußeren Alchemie gegenüber. Alchemie allgemein wird ja als “die wissenschaftliche Beschäftigung mit chemischen Stoffen” definiert, “in deren Mittelpunkt die Umwandlung und Veredelung von Stoffen steht”. Schwerpunkt der Äußeren Alchemie, die es ja auch bei uns im Abendland gab, war nun, durch Kräuter, die Einnahme besonderer Mineralien aber auch Stoffen wie Quecksilber das Leben zu verlängern oder gar Unsterblichkeit zu erreichen. Diese Richtung war lange Zeit sehr einflussreich, denn die Menschen im alten China waren extremen klimatischen Bedingungen ausgesetzt. Auch war die Lebenserwartung nicht sehr lang. Sie suchten daher nach unterstützenden Kraftquellen, die den Körper stärkten und gleichzeitig innere Kälte, Nässe oder Hitze ausleiten konnten. Wie wir nun wissen, hat sich diese Richtung aber bald aufgelöst – die Anhänger haben das Quecksilber nicht gut vertragen. Durch die parallele Existenz beider Strömungen wurden auch die Praktizierenden der inneren Alchemie inspiriert, nach hilfreichen Kräuterformeln zu suchen, die ihre meditative Praxis vertiefen. Zudem kam es durch die Grundideen der Äußeren Alchemie in der westlichen Medizin zur Entwicklung von Pillen und Medikamenten. In den neuesten Strebungen vieler Forscher aus dem Silicon Valley erfährt sogar die gesamte Linie der Äußeren Alchemie eine neue Blüte: Man sucht dort nun tatsächlich nach einer Formel für ewiges Leben.

Die Grundlagen der Inneren Alchemie

Wenn wir uns die Grundlagen der Inneren Alchemie nun einmal genauer anschauen, wird es aber sehr interessant. Denn sie basieren auf den Prinzipien heutiger therapeutischer Arbeit und auch Ansätzen aus dem Coaching:

  1. dem Prinzip der Selbstakzeptanz
  2. dem Prinzip der Selbstorganisation
  3. die Verbindung mit den eigenen Ressourcen
 

All dies stützt sich auf die Verbindung mit unserem Körper oder für unsere heutige Zeit formuliert: die Wiederentdeckung unseres Körpers als eine Grundlage für innere Transformation und spirituelles Wachstum. Ich fange jetzt bewusst einmal von hinten an: Ich kann ein Feuer in meinem Haus nur löschen, wenn ich zuhause bin. So ist es auch bei inneren Prozessen oder emotionalen Themen. Die Taoisten haben schon sehr früh die Verbindung von Körper und Geist erkannt. Die traditionelle chinesische Medizin, die ja direkt mit der Lehre des Taoismus verbunden ist, zeigt besonders in der Lehre der fünf Wandlungsphasen in aller Klarheit auf, in welcher Form Emotionen wie Wut, Angst aber auch überschießende Freude etc. direkt mit den Zuständen unserer Organe verbunden sind. Das Problem ist allerdings: Die meisten Menschen haben nur wenig Bezug zu ihrem Körper. Wir sind oft angespannt, gestresst oder erschöpft und „kreisen wie Gefangene“ in unseren Gedankenwelten und Emotionen.

Auch im alten China nutzten die Anhänger der Inneren Alchemie daher immer Übungen wie Taiji, Tao-Yin oder Praktiken des heutigen Qigong, um ihre Lebenskraft zu kultivieren, sich zu stärken und einen Zustand innerer Balance zu erfahren. Das wissen wir meist. Nun kommt aber ein entscheidender Punkt hinzu: Verschiedene Ebenen unseres Seins bedürfen verschiedener Frequenzen der Heilung. Um meine inneren Ängste wahrzunehmen, alte Gefühle zu verarbeiten oder einen Seinszustand der Verbundenheit mit dem Leben zu erfahren, brauche ich einen Zugang zu meiner Zellstruktur und zu meinem Unbewussten. Bewegungen und Körpertraining werden in der Inneren Alchemie daher nur als eine Grundlage angesehen, um in der Meditation in tiefere Schichten unseres Seins einzutauchen.

Dieses Eintauchen in sich selbst fühlt sich erst einmal so an, als ob man innerlich in seinen Körper absinkt oder sich dort niedersetzt. Dadurch entsteht ein Gefühl von einem offenen Raum und innerer Weite, verbunden mit einem inneren Ankommen und einer Zeitlosigkeit. In der Inneren Alchemie initiiert man diesen Prozess u.a., indem man sich bewusst mit den Kräften von Himmel und Erde verbindet und dann den unteren Dantien spürt. Dieser neue Innenraum ist die Grundlage für alle tieferen Prozesse. Das Leben an sich kann nun durchscheinen. Und jede Praxis, die nun folgt, kommt aus einer tieferen Seinsebene, frei von den kontrollierenden Mustern des Ego. Eine der Grundpraktiken der Inneren Alchemie aus diesem inneren Ankommen heraus ist dann das sogenannte „Nei Guan“, die innere Betrachtung. Wobei meist ein Wahrnehmen der „Landschaft der inneren Organe“ gemeint ist. Einfache Varianten dieser Praxis finden sich heute in vielen Qigong-Stilen als „Inneres Lächeln“ oder „Reise durch den Körper“ etc.

Selbstakzeptanz und Selbstorganisation

Der Schlüssel jeglicher Innenschau ist Selbstakzeptanz: Indem ich meinen Geist nun z.B. liebevoll auf meine Lunge oder Leber richte und mit einer inneren Umarmung wahrnehme, was ich dort spüre oder innerlich sehe, beginnt ein Prozess der Integration – eine Heilung auf physischer und emotionaler Ebene. Denn fast jede Erkrankung oder chronische Stresssituation basiert leider auch darauf, dass ich mich innerlich verneine, ablehne oder nicht mehr selbst liebe. Diese Verneinung bringt mich nicht nur vom Fühlen meiner Selbst und meiner Lebendigkeit weg. Sie schwächt auch mein Immunsystem und führt zu einer inneren Abspaltung. Indem ich nun umarmend wahrnehme, was ist und einfach präsent bin, kann auch das Prinzip der Selbstorganisation des Lebens wirken: es kommt zu einer Veränderung, weil die natürliche Kraft des Lebens nicht gestört wird. Selbstorganisation wirkt immer dann, wenn ein offener Raum verbunden mit innerer Präsenz vorhanden ist. Am Beispiel der Lunge kann sich das so anfühlen: vielleicht nehme ich wahr, wie die Lunge weiter oder größer wird oder wie sich ihre innere Farbe verändert – im Taoismus ist ihr ja eine weiße Farbe zugeordnet. Oder ich spüre, wie die Lunge vitaler wird, wie innere Bilder aufsteigen oder Gefühle wie nicht verarbeitete Traurigkeit zum Vorschein kommen.

Die Verbindung mit inneren Ressourcen

Dies allein ist schon ein Prozess der Selbstheilung und Integration. Und er wird im Ansatz der Alchemie nun bewusst verstärkt, indem man sich in der Meditation mit inneren Ressourcen oder Kräften verbindet. Unsere wichtigsten inneren Ressourcen sind die Liebe unseres Herzens sowie unsere Libido als Quelle innerer Heilkraft und Kreativität. Nicht ohne Grund sind beide wichtige Zutaten vieler Hollywoodfilme. Zudem sind auch Energien der Natur und des Lebens, in die wir als Menschen eingebettet sind, wichtige Ressourcen. Im Taoismus und Qigong bezeichnet man diese generell als die Kräfte von Himmel und Erde oder als „Qi der Natur“.

Die Verbindung mit inneren Ressourcen basiert auf einem der wichtigsten Gesetze des Lebens: Jede tiefe Veränderung braucht Energie. Das ist schon auf Zellebene so. Und gerade in unserer modernen Zeit, in der viele Menschen gestresst und überfordert sind oder nicht ausgeheilte Erkrankungen und Entzündungen in sich tragen, braucht es oft eine zusätzliche Kraft, um einen Prozess der Heilung und Integration zu ermöglichen. Es ist ja bezeichnend, dass viele Menschen im Urlaub erkranken – endlich hat der Körper wieder genügend Energie zur Regeneration.

Unsere Liebe und Libido verschmelzen zu einer Heilkraft

Eine berühmte Praxis der Inneren Alchemie ist nun, dass man die Kraft des Herzens und die Libido mit geistiger Hilfe im Bauch zusammenbringt. Das ist einfacher als es scheint: Man stellt sich z.B. einen See im Bauch vor, der von einer inneren Quelle am Beckenboden genährt wird. Zugleich visualisiert man, dass die Liebe des Herzens wie eine Sonne auf diesen inneren See scheint. Unterstützt durch ein sanftes, mehrmaliges Anziehen des Beckenbodens kommt es dann zu einer Vereinigung beider Energien: Herz- und Sexualenergie verschmelzen im Bauchraum zu einer inneren Heilkraft (1, siehe unten). Diese Heilkraft kann dann bewußt in einzelne Organe oder Drüsen geleitet werden. In fortgeschrittener Praxis entsteht auf diese Weise ein feines Qi, das wie ein „innerer Dampf“ von innen her jede unserer Zellen nährt und verjüngt sowie den Praktizierenden in höhere Bewusstseinszustände trägt.

Die Folge ist eine tiefe Einkehr in sich selbst, die Auflösung des physischen Körpers oder gar die Verlangsamung des Alterungsprozesses.Der Interessante dabei ist, dass man nicht nur Ressourcen aktiviert, sondern wichtige Lebenskräfte zu einer neuen Energie vereint. Die Alchemisten sprechen hier von der Veredelung und Verfeinerung unserer Lebenskraft und die oben genannte Praxis ist dafür nur ein Beispiel. Das Konzept dahinter basiert auf dem Grundgedanken der Alchemisten, dass uns „im Leben die Felle davonschwimmen“. Wir entfernen uns als Erwachsene immer mehr vom natürlichen Zustand eines Kindes, verlieren den Kontakt zu uns selbst und erschöpfen unsere Kräfte. Die Vereinigung verschiedener Energien soll uns die Möglichkeit geben, diesem Prozess entgegenzuwirken und gleichzeitig zu unserem Ursprung zurückzukehren. Eigentlich ist alles so ähnlich wie bei „Asterix und Obelix“: in dem inneren Kessel des Bauchraums sammelt man verschiedene Essenzen für einen Zaubertrank. Und dieser Trank wirkt nicht nur heilend und vitalisierend, er hilft auch, dass wir bei uns selbst ankommen und öffnet eine Tür in höhere Bewusstseinszustände.

Innere Alchemie in Alltag

Asterix war damit überfordert, dass die Römer Gallien besetzen wollten. Wir sind heutzutage mit den an Anforderungen des modernen Lebens überfordert. In diesem Sinne trifft die Innere Alchemie den Nerv unserer Zeit, auch wenn sie aus einem anderen sozialen und historischen Kontext stammt. Denn wir brauchen nicht nur Entspannung, sondern vor allem allem Liebe, Heilung, ein Ankommen bei uns selbst und eine Verbindung mit den Kräften des Lebens. Dies ermöglicht neue Wege heraus aus Erschöpfung, Überarbeitung und Selbstverneinung. Für den Alltag kann man sehr gut bewegtes Qigong mit Praktiken wie dem „Inneren Lächeln“ oder den „Heilenden Lauten“ kombinieren – Übungen die auch in vielen Qigongstilen verbreitet sind. Schon nach kurzer Übungszeit kann man sich so recht schnell vitalisieren, entspannen und gleichzeitig das Immunsystem stärken. Tiefere Praktiken brauchen eine gewisse Ausdauer. Wenn man allerdings bereit ist, an einem Intensivkurs über mehrere Tage teilzunehmen, kann man tiefgreifende Veränderungen erfahren, die neue Türen im Leben öffnen und lange anhalten. Das Energiefeld der Gruppe kann dabei eine große Hilfe. Na dann mal los…

  1. Eine wichtige Ergänzung hier wäre, dass die Energie des Beckenbodens direkt mit der Nierenenergie verbunden ist. Zudem ist der Beckenboden ein Zugangstor zum Yuan-Qi (einer tief aufbauenden Energie), dem Qi der Erde und einem fötalen Seinszustand von Urvertrauen. Die Sexualenergie ist also eigentlich nur ein Teil des Ganzen.
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