Der Weg der Liebe führt nach Innen

Ein Artikel von Carsten Dohnke.

Der taoistische Blick auf Partnerschaft

Die taoistische Tradition ist ein ganzheitlicher spiritueller Weg, der Partnerschaft und Sexualität ebenfalls in den Blick nimmt. Dabei legen die Praktiken ein besonderes Augenmerk auf das Bei-sich-Ankommen und die eigene innere Stabilität. Denn diese bilden im Taoismus die Grundlage für eine erfüllte und liebenvolle Partnerchaft.

(Ein Interview von Tattva Viveka, Zeitschrift für Wissenschaft, Philosophie und spirituelle Kultur, vom November 2021)

Tattva Viveka: Wir sprechen heute über das Thema Beziehung und Sexualität im Taoismus. Die Sexualkraft wird im Taoismus als die Essenz des menschlichen Wesens angesehen. Aus ihr entspringen Kreativität, Vitalität und Spiritualität. Doch beginnen wir bei den Beziehungen: Wenn ich mich umsehe, stelle ich schnell fest, dass vor allem in der westlichen Welt, auf die ich mich jetzt beziehe, Beziehungen häufig von Konflikten und einer gewissen Oberflächlichkeit geprägt und tendenziell weniger langlebig sind. Was machen wir falsch?

Carsten Dohnke: Manchmal funktionieren die Beziehungen tatsächlich, das ist positiv. Aber wo liegen die Probleme? Oft schauen wir wenig nach innen um uns selbst kennenzulernen. Aus unserer Einsamkeit, unserem Alleinsein heraus möchten wir gerne Zeit mit jemandem verbringen. So treffen häufig zwei Menschen mit ihren jeweiligen Traumata oder Lebensgewohnheiten aufeinander und das, was daraus folgt, ist aus asiatischer Sicht Aufarbeitung des Karmas. Es ist kein Geheimnis, dass man aus der unbewussten Ebene heraus bereits vor der Beziehung weiß, welchen Partner man anziehen wird, denn man schwingt mit der Person, die eine ähnliche Resonanz hat.

Tattva Viveka: Wie lassen sich glückliche und langlebige Beziehungen aus taoistischer Sicht aufbauen und erhalten?

Carsten: Ein wichtiger Punkt für tiefe Beziehungen ist das Ankommen bei sich selbst. Die taoistische Tradition ist auch berühmt für ihre Sexualpraktiken. Es wird viel darüber gesprochen und viele Bücher wurden dazu geschrieben, aber die Sexualpraktiken machen keine zehn Prozent des Taoismus aus. Die Praktiken wie Taiji und Qigong, die Traditionelle Chinesische Medizin, die in den Taoismus integriert sind, bilden ein größeres Feld gemeinsam mit Praktiken aus der Mystik, der Heilung und der Meditation. Ein wichtiger Ansatz ist, wie wir mit uns und mit einem anderen Menschen sehr tief in Beziehung treten können. Der folgende Satz bringt auf den Punkt, was sowohl in Beziehungen als auch in der therapeutischen Arbeit wichtig ist: »Ein Schritt nach innen gleicht einem Schritten nach außen«. Je mehr Kontakt ich mit mir habe, mit meinem Inneren und auch meinen Schattenseiten, desto mehr kann ich in Kontakt treten mit der Umwelt und den Menschen, die meine sozialen Beziehungen prägen.

Die Taoisten betonen einen Aspekt besonders: das Bei-sich-Ankommen. Das Bei- sich-Ankommen besteht darin, dass man seinen Geist ausschalten kann und in seinem Bauchraum ankommt, im eigenen inneren Ruhepol. Es braucht Zeit, das zu erlernen, es ist aber nicht schwieriger, als wenn man Klavier oder Gitarre spielen lernt. Nach ein, zwei Jahren kann man bereits eine Menge. Wichtig ist es auch, stabil und gut verwurzelt zu sein. Gelinge es mir, bei mir selbst, in meinem inneren Ruhepol anzukommen, kann ich mein Gegenüber besser wahrnehmen und zuhören. Viele Konflikte in Beziehungen beruhen darauf, dass wir das verlernt haben. Oder wenn wir den Bogen weiterspannen und uns auf die Mystik beziehen: Was ist das tiefste Thema, in dem man spirituelle Erfahrungen macht? Das ist, wenn wir die andere Person wahrnehmen, einen Bezug zu ihr haben und so durch den anderen das Leben und auch uns selbst tiefer fühlen. Auf der spirituellen Ebene ist dies relevant. Hier besteht eine Parallele zu Sexualität und Beziehung, nämlich dass ich dem Leben zuhören und es wahrnehmen kann. Würden wir fünfzig Personen auf der Straße die Frage stellen, ob sie das Leben wahrnehmen, könnten sie die Frage womöglich nicht verstehen. Der Grund ist, dass wir häufig nur um uns selbst kreisen. Das Leben wahrnehmen jedoch heißt zum Beispiel im Urlaub das Meer wahrhaft zu sehen. In einer spirituellen Erfahrung erleben wir uns als das Leben selbst. Wir erleben uns als Teil des Universums, wie die Welle, die sich als Teil des Ozeans erfährt. In einer Partnerschaft kommen wir in Kontakt mit dem Leben. Sexualität ist ein Vorgeschmack dafür, dass uns das Leben begegnet.
Im Taoismus besteht ein tiefer Fokus auf den eigenen Ruhepol und die eigene Stabilität. Das gibt uns die Möglichkeit, harmonisch mit anderen in Kontakt zu treten. Es gibt Praktiken, in denen wir nur in der Stille sind. Andere Bereiche wie Taiji betonen die Bewegung. Der Taoismus hat viele Facetten. Es ist keine kongruente Lehre, die sich nur um einen Aspekt dreht, sondern ein komplexes System mit drei Kernelementen: 1. Selbstheilung und Vitalität, also Gesundheit – viele Menschen sind erschöpft oder gesundheitlich schon an ihrer Grenze angelangt, 2. emotionale Heilung – alsoUmgang mit Stress, aber auch mit inneren Verletzungen. Und 3. Spiritualität. Diese drei Punkte machen den Taoismus aus. Man nimmt dazu den eigenen Geist, bewegt seinen Körper und lernt, seinen Atem zu schulen und zu beruhigen. All das kann durch gesunde Ernährung oder Kräuter unterstützt werden.

Generell ist der Taoismus ein Weg, der über den Körper zum Geist führt

Der Taoismus ist aus dieser Perspektive überaus wichtig für unsere Zeit. Wir tendieren in den letzten 20 Jahren durch Internet und Handy unsere Körperlichkeit zu verlieren. Auch Sexualität und Begegnungen mit anderen Menschen sind körperlich. Wenn ich mich wirklich lebendig in mir fühle, dann gehe ich auch lebendig in eine Beziehung hinein.

Sexualität basiert darauf, dass beide lebendig sind, sonst kommt es zu keiner Partnerschaft. Ausgehend davon, dass wir diese Lebendigkeit und Lebenskraft suchen, haben die Taoisten sehr schöne Meditationen entwickelt, mit welchen wir unser Herz öffnen, die Herzenskraft für innere Heilungsprozesse nutzen und unsere Libido aktivieren können, damit sie uns von innen nährt und trägt. Einerseits ist das einfach, andererseits komplex. Wir können das so zusammenfassen: Es gibt nur wenige Menschen in unserer Zeit, die über ein Übermaß an Lebenskraft bzw. „Qi“ verfügen. Die meisten sind gestresst oder permanent im Kopf. Viele Menschen können ihren Kopf gar nicht mehr abschalten. Sie sind nicht nur innerlich angespannt, sie haben auch den Bezug zu ihrer eigenen Lebendigkeit und Lebenslust verloren. Wenn ich in mir keine Liebe und Freude fühle oder mich gar innerlich leer fühle, suche ich all dies im Außen. Das ist auch ein Grund, warum viele Menschen heutzutage extreme Sachen machen, wie z.B. Bungy- Jumping. Man möchte sich endlich wieder fühlen.

Die Meditationssysteme der Taoisten können für unseren Alltag von Bedeutung sein. Denn der Fokus des Taoismus liegt zunächst einmal auf Lebendigkeit und Gesundheit. Erst an zweiter Stelle stehen Stille und innere Einkehr. Um sich wirklich gesund und lebendig zu fühlen, lernt man in den inneren Praktiken des Tao, die Kraft des Herzens und die Libido zu aktivieren. Beide Kräfte sind nicht nur tiefe Heilkräfte. Sie fördern auch unsere Kreativität und Lebenslust und unterstützen unser inneres Wachstum und unsere Spiritualität. In den inneren Praktiken des Tao lernt man mit als erstes, diese beiden Energien im Körper zusammenzubringen, und zwar in der eigenen Mitte.

TV: Das führt in die eigene Lebendigkeit?

Carsten: Genau, das Resultat ist eine Lebendigkeit, die für Menschen, die dies nicht praktizieren, schwer vorstellbar ist. Normalerweise können viele Menschen ihr Herz nicht fühlen, außer wenn sie verliebt sind. In meinen Seminaren berichten mir viele Teilnehmer nach ein bis zwei Jahren Praxis, dass sie zuvor noch nie eine solche Herzverbundenheit empfunden haben. Es ist wie ein kontinuierliches Licht, das sie überflutet. Es unterscheidet sich vom Verliebtsein; es ist eine Herzenskraft, die von innen heraus erfüllt.

TV: Doch die Herzenskraft ist nicht das Einzige, was man im Herzen fühlen kann, oder?

Carsten: Carsten: Absolut. Die Grundidee des Taoismus sowie vieler anderer Traditionen – sei es das Christentum oder der Buddhismus – ist es, unser Herz wirklich zu öffnen. Was den Taoismus jedoch in Bezug auf Beziehungen und Sexualität von anderen Traditionen unterscheidet, ist der Ansatz, die Libido durch Meditation zu aktivieren und so wieder in den Körper zu integrieren. Man könnte fragen, wie das mit Partnerschaft zusammenhängt. Die Antwort lautet, dass es entscheidend ist, diese Lebendigkeit und Liebe zuerst in sich selbst zu spüren. Denn das ist die Voraussetzung, um jemand anderem eine tiefe Lebendigkeit entgegenzubringen.

Wie ich zuvor erwähnte, ist das Dilemma in den meisten Partnerschaften heute, dass viele Menschen keinen Zugang zu sich selbst finden. Ich würde hinzufügen, dass sie erschöpft sind oder den Kontakt zu ihrem eigenen Herzen und ihrer Libido verloren haben. Deshalb erwarten sie oft, dass die andere Person diese Lebendigkeit für sie bereitstellt. Die Situation ist komplex: Sie treten nicht in eine Partnerschaft, um sich in ein tieferes Resonanzfeld einzubringen, sondern oft mit einem Mangel an innerer Erfüllung. Dennoch können uns die Praktiken des Taoismus unterstützen, indem wir unsere eigene Lebendigkeit aktivieren und somit tiefe Prozesse der Selbstheilung und Energiegewinnung erleben. Aber es geschieht auch etwas Besonderes, wenn unsere Herzensenergie und Libido im Bauch zusammenkommen. Eine der tiefsten Meditationen heißt „die Vereinigung von Wasser und Feuer“. Diese Meditation führt zu einer anderen Schwingung in unseren Zellen. Es ist ein innerer Initiativprozess, ein Heilungsprozess. Wenn er gelingt, ist er mehr als nur ein Verjüngungsprozess. Die Sexualenergie bildet die Grundlage der Kundalini, auch im Yoga. Unten liegt die Sexualkraft. Im Yoga gibt es ähnliche Praktiken. Die Frage ist: Wie können wir Erschöpfung vermeiden, weil wir ständig diese Sexualkraft verlieren, sei es in der Partnerschaft oder durch unkontrollierten Energieverlust? Die Taoisten haben herausgefunden, dass die Sexualkraft die Basis aller Lebendigkeit und aller kreativen Prozesse bildet. Jeder kreative Prozess im Leben, sei es das Blühen einer Blume, das Schreiben eines Buches oder das Starten eines Projekts, basiert auf dieser tiefen Lebenskraft, die sich entfalten möchte. Wenn Menschen erschöpft sind oder älter werden, sagen sie oft, dass sie gerne noch ein Projekt durchführen würden, ihnen jedoch die Energie fehlt. Die Idee der Taoisten ist die folgende: Wenn wir diese beiden Kräfte in uns vereinen und die tiefe Lebendigkeit sowie die Sexualkraft als aktive Kraft in uns spüren, wäre es ideal, dies auch in der Partnerschaft zu erleben.

TV: Würdest du sagen, dass das Ziel von Sexualität im Taoismus ist, diese Lebendigkeit durch Sexualität zu erreichen?

Carsten: Warum fühlen sich Menschen überhaupt zur Sexualität hingezogen? Es ist die Lebendigkeit. Niemand sehnt sich nach Sexualität, um einfach nur ruhig zu sein; vielmehr spüren wir eine umfassende Lebendigkeit in uns. Es ist nicht ohne Grund, dass ein Orgasmus als eines der tiefsten Gefühle beschrieben wird, die ein Mensch bei der Vereinigung erfahren kann. Aus diesem Grund betonten die Taoisten, dass wir diese Energie in uns aufnehmen und durch Meditation umwandeln sollten. So erleben wir eine tiefe Lebendigkeit, ähnlich der in der Sexualität, jedoch verbunden mit Stille, Stabilität und insbesondere mit der Kraft des Herzens.

Das ist es, was vielen Menschen heutzutage fehlt. In meinen mehr als 30 Jahren als Lehrer höre ich immer wieder von Teilnehmern, dass ihr Leben anders verlaufen wäre, wenn sie früher gelernt hätten, bei sich anzukommen, Liebe auch ohne Partner zu fühlen und Lebendigkeit in Präsenz und Ruhe wahrzunehmen. Dies bildet ein starkes Fundament für sämtliche Partnerschaften. Viele Partnerschaften, wie auch Freundschaften, kommen und gehen heutzutage schnell. Wenn der Partner innerlich abwesend ist, erschöpft oder überlastet, fühlt man sich schnell unerkannt und nicht mehr verbunden. Dies führt dazu, dass der Herzkontakt verloren geht, und dann endet die Partnerschaft oft relativ schnell.

Die Evolution hat etwas Besonderes für uns geschaffen, was den meisten Menschen nicht bewusst ist: Wenn wir verliebt sind, spüren wir immer eine direkte Verbindung mit unserem Partner und befinden uns in einem Herz-zu-Herz-Kontakt. In diesem Zustand ist auch die Kommunikation nicht mehr rein mental, sondern geschieht auf Herzebene oder durch feine Gesten. Man blüht förmlich auf und schwebt auf einer rosaroten Wolke. Das ist ein wunderbares Gefühl, aber wie der Ausdruck „verliebt sein“ schon sagt, ist man nicht mehr vollständig bei sich und daher nicht mehr mit seinem inneren Kern verbunden. Man hat sich bereits ein wenig verloren.

In einer Beziehung geht dieser Herz-zu-Herz-Kontakt in der Regel nach zwei bis drei Jahren verloren, auch weil sich die Hormone verändern. Man tritt in eine andere Phase der Beziehung ein. Viele Menschen fragen sich dann, in was für eine Situation sie geraten sind. Das Schöne ist, dass dies im Taoismus bereits vorhergesehen wird, ebenso wie in anderen Weisheitstraditionen. Sie betrachten dieses Gefühl der Verliebtheit als eine vorübergehende Phase. Aus diesem Grund wird der Kontakt zur eigenen Mitte, zur Herzenskraft und zur Libido so betont. Bleiben wir mit diesen Ressourcen in Kontakt, projizieren wir viel weniger auf den Partner. Auf diese Weise können wir die Lebendigkeit in der Partnerschaft lange Zeit aufrechterhalten, möglicherweise sogar ein Leben lang.

TV: Wie kann man diese Herzensverbindung aufrechterhalten?

Carsten: Unter anderem, indem man die nicht einfache, tiefe Entscheidung trifft, regelmäßig innere meditative Praktiken auszuüben. Das ist das Entscheidende. Man kann gewisse Sexualpraktiken in der Partnerschaft umsetzen. Das hilft, aber reicht meistens nicht für eine gute Partnerschaft. Es braucht dieses Innere-bei-sich-Ankommen und eine innere Verbundenheit zu sich selbst. So gelingt es besser im Herzen zu bleiben. Wichtig ist, dass taoistische Meditation, Sexualität und Partnerschaft in zwei Bereiche übergehen, der eine ist Spiritualität und Mystik und der andere Psychologie. Es gibt große Schnittmengen. Bei den taoistischen Sexualpraktiken geschieht es oft, dass man von der Energie überwältigt ist, wenn man die Herzenskraft fühlt oder merkt, wie die Libido aufperlt. Wenn dies eintritt, geht man weniger in die feineren Schwingungen in der Meditation hinein, obwohl dies der Sinn ist. In allen Meditationssystemen der Welt ist es elementar, alte emotionale Themen oder Traumata zu verarbeiten. Dies wäre meines Erachtens der wichtige dritte Punkt für eine gute und tiefe Partnerschaft: Der erste ist ja die Fähigkeit, in seiner Mitte zu sein und abschalten zu können, der zweite die Verbindung zwischen Herz und Sexualität und der dritte Schritt ist, dass ich in meine alten emotionalen Themen eintauche und innere Verletzungen und Traumata heile, weil ich immer mehr mit mir selber im Kontakt bin. Es existieren viele therapeutische Methoden, die ergänzend recht schnell wirken. Unter anderem deshalb, weil die Meditationen bereits helfen, mit den unverarbeiteten Themen oder inneren Schattenseiten in Kontakt zu kommen. Ich hebe dies hervor, weil es häufig nicht getan ist, wenn nur die Energieebene betont wird. Anders gesagt: Seelische Aufarbeitung ist für eine gelungene Partnerschaft unabdingbar. Das innere Kind will gesehen werden. Dies gilt auch für alle spirituellen Praktiken in der Weisheitslehre des Taoismus.

TV: Ich beobachte in meinem Umfeld, dass es Menschen gibt, die wie in einer Schleife gefangen sind, denn in ihren Partnerschaften tauchen immer wieder dieselben Themen, beziehungsweise dieselben Probleme auf. Häufig fällt dies eher Außenstehenden auf, dass sich jemand beinahe in der gleichen Situation wiederfindet wie in der Vergangenheit. Wer spirituelle beziehungsweise psychologisch orientierte Bücher liest und sich selbst und seine Mitmenschen beobachtet, bemerkt, dass Themen immer wieder zurückkehren, bis man ihnen wohl anders begegnet.

Carsten: Hier existieren viele spannende Zusammenhänge. Ich mag den Ansatz der Taoisten sehr: Wir sind in der Welt und haben die Chance zu wachsen und uns zu entfalten; spirituell, aber auch im Alltag können wir unser Potenzial und unsere Liebesfähigkeit und Lebendigkeit entfalten. Es ist interessant, dass gerade die Hirnforschung aufzeigt, dass durch Praktiken wie Qigong oder Taiji, Meditation und Körperübungen sehr gute langfristige Veränderungen bewirkt werden können. Unser Charakter wird durch unseren Körper geprägt. Im Taoismus wie im Qigong geht es um neue Körperstrukturen, neue Haltungen und darum, sich körperlich ganz zu fühlen. Dies ist eine große Chance, seinen Charakter zu verändern, denn alte traumatische Erfahrungen werden durch unsere Körperhaltung gespeichert. Dafür gibt es viele Beispiele: Wenn ich wütend bin, habe ich eine andere Körperhaltung, als wenn ich mich fühle, dass mir im Leben alles zu viel wird oder wenn ich traurig bin. Wir alle nehmen hin und wieder diese dafür typischen Körperhaltungen ein. Der Punkt ist aber: wenn diese Körperhaltungen chronisch und fest in uns werden, sind sie eigentlich „wie Eis“. Wir fühlen sie dann nicht mehr. Sie sind dann Teil unseres Charakters geworden und daher immer anwesend.

Wir fühlen das Eis in uns nicht, sondern nur das, was sich lebendig in uns bewegt. Daher ist es eine Riesenchance, wenn man Körperarbeit mit Meditation und Organheilung verbindet. Ich sehe viele Menschen, die sich grundlegend verwandeln und infolgedessen auch andere Beziehungen eingehen. Dahinter steht der folgende Satz: Eigentlich, wenn wir ganz ehrlich sind, gehen wir häufig lieblos mit uns selbst um. Gerade in unserer heutigen Zeit, in der alles schneller gehen soll, und von allen wird erwartet, dass sie  besser funktionieren. Bereits in der Schule gibt es die Erwartung, dass man schneller lernen soll, damit man später in der Uni und in seinem Job erfolgreich ist. Wenn wir darauf programmiert sind, gut zu funktionieren, bekommen wir über die Resonanz in unserem Umfeld unsere Belohnung. Die Folge ist, dass wir uns selbst nicht mehr spüren und nicht liebevoll zu uns selbst sind. Es braucht jedoch diesen liebevollen Umgang mit uns selbst, damit wir uns körperlich entfalten können und unsere alten Themen in uns schmelzen. Unsere Liebe scheint wie eine Sonne auf das innere Eis. Auch durch sich bewusstes Bewegen, lassen wir das Eis in uns schmelzen und beginnen, uns wieder zu fühlen.

TV: Was verstehen die Taoisten unter der sexuellen Energie und wie arbeiten sie mit ihr?

Carsten: Sie verstehen darunter die Sexualkraft, besonders die Kraft in den Hoden oder Ovarien als die gespeicherte Energie der Fortpflanzung, aber auch die Energie im gesamten Bereich der Sexualorgane. Hier eine zusätzlich wichtige Information: Die Sexualkraft entsteht gemäß der chinesischen Medizin und dem Taoismus in den Nieren. Das bedeutet, dass die beiden Nieren unsere vorgeburtliche oder vererbte Energie speichern und die Sexualkraft hervorbringen. In der chinesischen Medizin gibt es eine Anwendung, die bei Erschöpfung oder Unfruchtbarkeit eingesetzt wird. In diesem Zusammenhang werden Kräuter für den Blutaufbau, aber in den meisten Fällen für den Aufbau der Nierenenergie verabreicht. Man stärkt die Nieren. Wenn ein Mann impotent ist, akupunktiert man hinten am Rücken auf den Punkten des Blasen-Meridians, wo die beiden Nieren liegen. Oft wird dort zusätzlich die erwärmende Moxa-Therapie verwendet, die viel Kraft gibt. Die Nierenenergie ist immens wichtig, da sie die Sexualenergie hervorbringt. Anders gesagt: wenn man in einer tiefen Erschöpfung ist, nützt es nichts, Sexualpraktiken zu erlernen. Zuerst sollte man die Nierenenergie aufbauen, welche die Sexualenergie hervorbringt. Das unterstützt die Partnerschaft und es wird für eine Frau, die diesen Wunsch hat, einfacher schwanger zu werden. Die Stärkung der Nierenenergie hilft auch, die Potenz des Mannes zu unterstützen und somit z.B. vorzeitige Ejakulation zu vermeiden.

Die Praktiken der Taoisten heißen auf Chinesisch Huan Jing Bu Nao »Man kehrt die Essenz um«. Die Essenz ist die Nieren- und Sexualenergie, weil die Sexualkraft aus den Nieren kommt. Diese Essenz wird zurück ins Gehirn geleitet, damit es gut arbeiten kann und sich dadurch, ähnlich wie in der Chakren-Lehre des Yoga, die höheren Energiezentren sich öffnen können. Als Folge kann sich unsere Intuition entfalten und wir erfahren eine Art innere Weisheit. Umgangssprachlich ausgedrückt, sind diese Übungen “der Hammer”, denn sie verändern das Leben jeder Person und sind nicht allzu schwierig. Es ist wundervoll, wenn die Menschen merken, dass ihre Herzenskraft wie Nektar in den Beckenboden hinunterfließt und auf einmal über die Wirbelsäule eine Lebendigkeit von Liebe und Libido ins Gehirn fließt und der Geist unendlich weit wird. Das ist eine Möglichkeit, wie man mit einem Überschuss an Libido umgehen kann. Wenn dieser Überschuss einmal aufgeperlt ist, wirkt er wie ein eigener Sekt im Körper und man hat nicht mehr unbedingt das Bedürfnis nach Sexualität.

Sexualität braucht immer eine Verbindung mit unseren tieferen Schichten. Männer sind Yang-betont, also aktiv, auch in der Partnerschaft. Wenn ein Mann keine Erektion hat, gibt es keinen Sex. Aus chinesischer Sicht geht die Erektion mit der Energie der Leber einher. Die Leber mit ihrem Blut bewirkt die Erektion, und die Leber hängt mit unserer Power und Dynamik, mit unserer Freundlichkeit, aber auch mit unserer Wut zusammen. Wenn ich als Mann mit innerer Anspannung in die Sexualität oder Beziehung einsteige, vermischt sich die Sexualkraft oft mit innerer Wut. Viele tragen diese Anspannung in sich und wissen nicht, wohin damit. Das lernen wir ja auch nicht in der Schule. Manchmal kommt sie richtig hervor, doch meistens wird sie unterdrückt. Dabei hängt die Leberenergie gleichzeitig auch mit Müdigkeit zusammen. Gerade wenn die Leberenergie stagniert oder überaktiviert ist. Es ist das Gefühl, das man zum Beispiel oft nach einer ausgiebigen Mahlzeit empfindet, man wird müde. Diese Müdigkeit und Trägheit tragen viele andauernd in sich und deshalb sieht man die Wut nicht, doch sie brodelt unter der Trägheit. Dies ist der Grund, warum es wichtig sein kann, dass wir die taoistischen Sexualpraktiken lernen, bei denen wir die Sexualenergie ins Gehirn hochziehen können. Das ist auch für Frauen möglich. Konkret bedeutet das, dass der Mann seinen normalen Orgasmus bei dem es ja zur Ejakulation kommt, eher vermeidet. Durch das Hinaufführen der Libido in die Wirbelsäule und das Gehirn kann er aber gleichzeitig den inneren Stress abbauen und die Sexualkraft zu einer Art Heilkraft oder neuen Lebensenergie umformen, die von innen her alle Zellen mit  frischer Lebendigkeit füllt.

TV: Wie sehen die Taoisten die Rolle der Frau und des Mannes in der Beziehung beziehungsweise in der Sexualität?

Carsten: Für den Mann ist die Verbindung der Sexualkraft mit seinem Herzen wichtig, denn dies geschieht beim Mann normalerweise nicht. Durch die Verbindung mit seinem Herzen kann er tiefer in die Beziehung gehen und womöglich bestimmte Praktiken umsetzen. Es kann dem Mann durch manche taoistische Sexualpraktiken gelingen, länger Sex zu haben. Beide sind im Geschlechtsverkehr, kommen dann zur Ruhe. Ob sie ineinander liegen oder nicht, die Sexualkraft perlt in die Zellen auf, womöglich sogar durch beide hindurch. Dies erzeugt eine immense Nähe zu der anderen Person. Für den Mann ist es daher am wichtigsten, die Verbindung zum Herzen zu erfahren, und gleichzeitig, alte emotionale Verletzungen zu klären. Da die Sexualenergie beim Mann sehr Yang ist und auch von der Leber her bestimmt wird, mischt sie sich wie gesagt leicht mit Anspannung, Stress und versteckter Wut. Das zeigt sich dann besonders bei Vergewaltigungen. Missbrauch und auch Gewalt in der Familie steigen ja bekanntlich an, wenn der gesellschaftliche und persönliche Stress ansteigt. Dies ist ein sehr ernstes und schlimmes Thema. Männer können Sex haben, wenn sie voller Wut sind. Sex wird dann zu einer Art Ventil, um den Druck abzulassen. Frauen können das nicht. Bei der Frau beginnt Sexualität in der Regel mit einem Sich Öffnen und Hingabe. Deshalb hört man auch wenig von Vergewaltigung eines Mannes. Daher ist es so wichtig, dass Männer lernen, sich mit ihrem Herzen zu verbinden und ihre inneren Spannungen aufzulösen.

Viele Frauen berichten mir, dass es ihnen relativ leichtfällt, die Energie hochperlen zu lassen, und sie spüren ihr Herz schnell. Oft geschieht dies bei Frauen wirklich von allein. Das stimmt in vielen Fällen, doch letztlich ist es bei jedem Menschen anders. Welches Thema betrifft eher Frauen? Stabilität und Bei-sich- Ankommen, könnte ich zusammenfassend sagen. Für eine Frau ist es einfach, wenn man nicht in seiner eigenen Mitte und in der eigenen Ruhe ist, in der Beziehung zu verschmelzen und sich womöglich darin zu verlieren. Vielleicht ist es von der Evolution so gewollt, da sie schwanger werden können und die Mutterrolle innehaben. Das mag sich positiv anhören, dieses Schmelzen hat gewisse Qualitäten, aber es geht mit einer Verlorenheit einher. Wenn es zur Trennung kommt, kollabiert dann das eigene Leben. Das sind komplexe Themen, aber nach meinem Erfahrungsschatz hat es mit dem Thema Kinderbekommen zu tun. Wenn ein Kind da ist, hat die Frau viel mehr Nähe zum Kind als der Mann. Der Mann hat auch Nähe zum Kind, aber in vielen Fällen spielt der Mann erst richtig mit dem Kind, wenn es bereits laufen kann. Die Verbindung zwischen Mutter und Kind ist einmalig, sie verschmelzen oft zu einer Einheit und der Mutterinstinkt tritt zutage. Dieses Verschmelzen erleben auch viele Frauen, wenn sie in eine neue Beziehung eintreten oder gar mit ihrem Heim verschmelzen. Der Haken ist, dass viele daraufhin nicht bei sich selbst ankommen. Die Folge ist, dass viele ihre Klarheit verlieren. Wenn ich mit jemandem eins bin, trifft mich jede Kritik tief im Herzen. Frauen fühlen ja oft auch einen tiefen Schmerz oder eine Leerheit, wenn die eigenen Kinder aus dem Haus gehen. Viele kollabieren aufgrund des Schmerzes und finden nicht mehr zu sich selbst. So kehren wir zum Kernpunkt des Taoismus zurück: zum Bei-sich-selbst-Ankommen. Durch dieses Bei-sich-Ankommen entsteht eine tiefere Beziehung zum eigenen Herzen, zur eigenen Liebesfähigkeit und Libido, und damit entwickelt sich die Fähigkeit, mit Klarheit eine Beziehung einzugehen.

Beziehungen brauchen Konflikte, wir leben von Konflikten. Konflikte sind nicht immer negativ, sondern im Beziehungsraum stehen immer Dinge an, die es zu klären gilt, an denen wir uns reiben, sei es zwischen Partnern oder zwischen Mutter und Kind oder in der Firma oder Gesellschaft. Dadurch wachsen wir. Wenn ich verschmolzen bin, bin ich nicht mehr konfliktfähig. Wie kann ich diese Person kritisieren, mit der ich doch eine Einheit bin. Das ist das große Dilemma.

TV: Eine letzte Frage: Wie kann Sexualität heilend wirken?

Carsten: Sie kann heilend wirken, wenn wir das Herz in der Sexualität mit dem/der PartnerIn öffnen und die Energien innerlich zu fließen beginnen. Die taoistischen Praktiken unterstützen das innere Fließen, weil die Energien in alle Organe aufperlen. Es kann aber auch ohne diese Praktiken heilend wirken, wenn man innerlich zu schmelzen und zu fließen beginnt und loslässt. Forschungen ergaben, dass Menschen, die regelmäßig Sex haben, gesünder oder heiler sind in einem ganzheitlichen Sinne als die, die keine Sexualität leben. Das wäre der eine Punkt, der andere ist die innere Heilung, über die wir bereits sprachen. Das Hinaufführen der Sexualkraft ist eine Spezialität der Taoisten. Viele alte Abbildungen, die tausend bis zweitausend Jahre alt sind, zeigen Taositen, die einen Pfirsich halten. Sie drücken symbolisch aus, dass die Sexualkraft in all ihre Zellen aufgestiegen ist, und der Pfirsich symbolisiert Langlebigkeit, Gesundheit und innere Heilung.  Die Forschungen in dem Bereich sind relativ neu, doch manche bestätigen, dass durch regelmäßige Meditation ein innerer Heilungsprozess entsteht und sich in den Telomeren der Chromosomen, also im Bereich der Zellen, eine Art Verjüngungsprozess ereignen kann. Dies kann geschehen, wenn man regelmäßig meditiert und/oder regelmäßig fastet. Aus meiner Erfahrung heraus insbesondere wenn Herz- und Libidoenergie im Körper vorhanden sind und neue Impulse in die Zellen geben. Das als eigene sexuelle Praxis für sich allein, aber auch beim Geschlechtsverkehr, wenn die Liebes- und Libidoenergien in uns wirken. Ich glaube aus meiner Erfahrung heraus, dass die tiefen Praktiken der taoistischen Meditationen zur Zellverjüngung führen. Das heißt nicht, dass man immer jünger wird, sondern dass die Zellen eine Chance haben zu regenerieren – in dieser tiefen Stille der Meditation und durch die neuen Ressourcen, die frei werden. Es ist nicht so, dass man nur still wird, es fließt eine neue Energie hinein, wodurch die Zellen in eine Zellautophagie, eine Zellselbstheilung, eintreten können. So kann der gesamte Körper gesünder werden. Eine tolle Sache, oder?